Orgel als Geschichtetes
A Wiewohl immer wieder Stilformen wie der Typus der Schnitger- Silbermann- oder der Hildebrandtorgel in Repliken Nachahmung im Sinne einer stilistischen Typisierung erfahren, so muss doch stets hinterfragt werden, ob etwas wie eine ’stilreine’ Orgel überhaupt existiert – warum? In der Geschichte des Orgelbaus spielen die Wanderjahre der Orgelbau-Gesellen eine wesentliche Rolle: Über die unterschiedlichen Meister, bei denen ein Geselle während seiner Wanderjahre einkehrte, führte der Geselle ein Wanderbuch. Je mehr unterschiedliche Meister dem Gesellen dessen Können attestierten, desto besser waren die späteren Berufsaussichten. Wenn aus dem Gesellen dann selbst ein Meister wurde, so verschmolzen in seiner Kunst dann nicht selten die zuvor Erworbenen unterschiedlichen Stilismen.
B Orgelbauer haben oftmals an Instrumenten, wie sie sich ihnen überliefert haben, Veränderungen als Umbauten oder Zubauten vorgenommen. In der heutigen Denkmalpflege firmiert dies unter dem Begriff ›gewachsener Bestand‹. Genau hier beginnt zugleich das, was Bossert in der stilistischen Konsequenz ›Orgel als Geschichtetes‹ nennt: Aus unterschiedlichen Epochen generiert sich Geschichte; hieraus entspringen zwei Perspektiven:
a An einer Orgel haben unterschiedliche Orgelbauer gewirkt, woraus nun der gewachsene Bestand zu ›Orgel als Geschichtetes‹ führt.
bIn einer Orgel wurden von nur einem Orgelbauer ganz bewusst unterschiedliche geschichtliche Perspektiven versammelt.
Beispiele:
In der Trost-Orgel inWaltershausen (1730 / 1755) erkennt Bossert im Brustpositiv ein Klangbild, das zum 17. Jahrhundert verweist, im Hauptwerk das gebräuchliche Klangbild aus Grundlabialstil und Terzmixtur, im Oberwerk das der Empfindsamkeit einer kommenden Zeit zugewandte Spektrum von vier verschiedenen Flötenstimmen.
Der Typus der Buchholz-Orgel zeigt in ihren großen Ausarbeitungen wie in Kronstadt (Braşov) 1839 oder Stralsund 1841 zwei Gesichter: Er baut auf der Schule Joachim Wagners auf und führt diese – insbesondere in Kronstadt – durch klangliche Verfeinerung zu schwellbaren Echowirkungen und zum Pianissimo.
In der Schubert-Orgel in Marienberg / Erzgebirge 1879 steht die Freiberger Dom-Orgel Gottfried Silbermanns Pate. Zugleich trifft man in Posaune 32’ und Fagott 16’ auf durchschlagende Zungen der Hochromantik. Ähnlich sind auch Stimmen wie Violonbass, Gambe und Geigenprincipal zu verstehen.
In der Link-Orgel in Giengen / Brenz (1906) vereinigt in sich anhand eines klassischen französischen Grand Jeu Prinzipien der Holzhey-Orgel in Kloster Neresheim (1797) mit Prinzipien der Spätromantik (Stentor-Gambe, Stentor-Flöte etc.)