Regers Denken – Ein Abstract zu seinen drei Choralphantasien Opus 52

19.08.2023

Nehme ich die Töne h, d′ und es′ und ordne ich diesen drei Tönen die Funktion einer Quint h, einer Octav d′ und einer Mollterz es′ zu, so erhalte ich die ersten drei Akkorde aus Regers op. 52, 2 Wachet auf, ruft uns die Stimme: Nacheinander hört man dort drei Akkorde in e-Moll, d-Moll und c-Moll.

Die ersten drei Töne des Liedes Wachet auf, ruft uns die Stimme reihen nacheinander Grundton, Durterz und Quint. In einer Fuge werden daraus im tonal beantworteten Comes auf Stufe V Grundton, Durterz und Quart, also beispielsweise h, dis′ und e′. Zu Beginn von Regers Opus 52, 2 erklingen in den ersten drei Akkorden im Diskant die Töne h, d′, es′.

Transponiere ich h, d′, es′ um einen Ganzton nach oben, so erhalte ich cis′, e′, f′. Wenn ich diesen drei Tönen die Funktion einer Quint cis, einer Octav e und einer Mollterz f zuordne, so erhalte ich die ersten drei Akkorde aus Regers op. 52, 1 Alle Menschen müssen sterben, wie sie dort in der Introduktion in deren erstem leisen kurzen Einwurf als Reihung der Akkorde in fis-Moll, e-Moll und d-Moll anzutreffen sind.

Betrachte ich die Reihe fis-Moll, e-Moll und d-Moll, wie sie im ersten kurzen piano-Abschnitt von Regers op. 52, 1 exponiert ist, in Relation zu den Grundtonarten Des-Dur, E-Dur und G-Dur, wie sie in Regers Opus 52, 1, 2 und 3 gegeben sind, so entspricht der Relation fis-Moll zu Cis-Dur [Des-Dur] in op. 52, 1 die Funktion Moll-Unterdominante (Beginn des ersten piano in op. 52, 1) zu Tonika; es entspricht der Relation e-Moll zu E-Dur in op. 52, 2 die Funktion Tonika in Moll (die Introduktion zu op. 52, 2 erklingt in e-Moll) vs. Dur (alle Choraldurchführungen erklingen in E-Dur) und es entspricht der Relation d-Moll zu G-Dur in op. 52, 3 die Funktion Moll-Oberdominante (siehe in der Introduktion zu op. 52, 3 das d-Moll bei Spitzenton d′ des ersten Pedalsolo) zu Tonika.

Dem ersten kurzen piano-Abschnitt in der Introduktion von Regers op. 52, 1 folgt ein zweiter piano-Abschnitt als Abschluss der Introduktion unmittelbar vor Eintritt der ersten Choralzeile. Man vernimmt dort im fortissimo die Manifestation der Worte Alle Menschen müssen sterben. Die Introduktion schließt Reger zuvor im Pianissimo in fis-Moll ab. In diesem zweiten piano-Abschnitt erklang zunächst die bereits bekannte Reihung fis-Moll, e-Moll, d-Moll. Doch im Unterschied zum ersten piano-Einwurf verharrt Reger nun nicht mehr in der Dunkelheit dieses d-Moll, sondern er komponiert jetzt, wie sich ein Kreis schließt, denn im Bass hört man die Tonfolge

Fis-F-E-Es-D – E – Fis.

Hierauf stößt man nun im Beginn von Regers op. 52, 2 einen Ganzton tiefer anhand der Tonfolge

E – D – C – D – E.

In der Oberstimme erklingt dazu die Tonfolge

h – d′ – es′ – d′ – h

und es bildet sich dem synästhetisch wahrnehmenden Bewusstsein nun ein Vollkreis ab.

Im Raum zwischen Bass und Diskant tut sich anhand der Füllstimmen der harmonische Kontext auf. Dabei bewegt sich alles in H a r m o n i e und in S y m m e t r i e als

e-Moll, d-Moll, c-Moll, d-Moll, e-Moll.

Mein Abstract dazu lautet nun:

h – d′ – es′ – d′ – h

r e g e r

E – D – C – D – E

Regers Opus 52 ist das nächste unter seinen großen Orgelwerken, das auf Opus 46 über den Namen B-A-C-H folgt.

Was geschieht nun als Nächstes in Regers op. 52, 2 Wachet auf, ruft uns die Stimme? Unmittelbar zu Beginn hat sich dem synästhetisch wahrnehmenden Bewusstsein ein Vollkreis aufgetan, der allerdings hier noch in tiefstes Dunkel gehüllt ist. Reger selbst hat diesem Beginn das Wort Friedhofsruhe zugeordnet.

Der große l e t z t e Ausblick in den beiden Schlusstakten der Fuge aus op. 52, 2 rückt diesen Vollkreis in ein gleisendes Licht. Doch welcher Weg liegt dazwischen?

Dieser Weg, der sich im Zwischenraum ansiedelt, lautet:
Kaum hat sich die Gestalt des Vollkreises zu Beginn des op. 52, 2 manifestiert, wird dieser Vollkreis immer auf’s Neue aufgesprengt und einem Prozess ausgesetzt:
Er, der Vollkreis, wird erweitert:

Aus e-d-c-d-e wird e-d-B-Fis-F-E.

Er wird dynamisch gesteigert:

Erstmals durch Öffnen und Schließen des Schwellers in T. 1/2.

Er wird semantisch aufgeladen:

Der Vollkreis umfasst fünf Achtel; durch anschließende weitere fünf Achtel wird der Vollkreis aufgesprengt. Das Zahlsymbol aus fünf plus fünf lässt das Gleichnis von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen assoziieren. Dieses Gleichnis ist Grundlage des Liedes »Wachet auf!« ruft uns die Stimme.

Er, der Vollkreis, wird aus der Tiefe in lichteste Höhen versetzt:

Wenn zu Choralbeginn erstmals die Stimme des Engels den Toten sein »Wachet auf!« zuruft, dann liegt im Bass unbewegt die Duodezim E-h aus Beginn von Takt 1, doch in genauer dialektischer Verkehrung erklingt nun das vormalige E-D-C-D-E als

e′′′-dis′′′-d′′′-cis′′′-d′′′-dis′′′-e′′′.

Er wird Stringendo-Verläufen ausgesetzt:

In Takt 20, dann weiter ab Takt 31.

Er wird transponiert bis hin zum katastrophalen Höhepunkt:

Ab Takt 28, 2. Takthälfte sowie ab Takt 46. Das, was ich den katastrophalen Höhepunkt nenne, erklingt ab Takt 65, letzte Viertel, bis Takt 69.

Dann erfolgt ab Takt 70 ein plötzlicher Umbruch in die Vision des Heiligen Abendmahls, um ab der Fuge Jubel erschallen zu lassen:

Gloria sei dir gesungen mit Menschen- und mit Engelszungen, mit Harfen und mit Zimbeln schön.
[Reger: Die Fuge soll klingen, als ob ein Engel durch den Himmel tanzt].

So, wie in Regers op. 52, 1 das Akkordmodell fis-e-d bzw. die Progression Fis-E-D-E-Fis in den beiden piano-Abschnitten der Introduktion kurz angedeutet ist, so bleibt nun das Modell e-d-C-D-e auch in Regers op. 52, 3 auf die Introduktion beschränkt – so scheint es. Allerdings erklingt das, was sich in op. 52, 1 andeutete, nun in op. 52, 3 in gleisendem Licht. Und hinzu kommt eine riesenhafte Augmentation anhand jeweils eines Klanges in e-Moll, d-Moll, C-Dur, D-Dur. Diese vier Klänge sind nun als jeweilige Zentralereignisse über die gesamte Introduktion von op. 52, 3 ausgebreitet. Doch das eigentliche Ereignis ist damit

n o c h n i c h t

eingetreten, nämlich der Übergang zum Choraleintritt als Manifestation der Worte Halleluja! Gott zu loben bleibe meine Seelenfreud’.

Dazu sage ich:

h – d′ – es′ – d′ – h

r e g e r

E – D – C – D – E

wandelt sich in

e – d – C – D – G.

Den ersten kompositorischen Hinweis hierauf sehe ich bereits in op. 52, 2 im zweiten Fortissimo-Einwurf der Introduktion in Takt 7 im Krebsgang gegeben als

G – D – C-Des-D-Dis-E […]

Und der Vollkreis bildet sich in der Fuge von op. 52, 3 ab durch den Cantus firmus in Bass und Diskant als

d′′ g′′ a′′ h′′ e′′′ d′′′ c′′′ h′′

Halleluja! Gott zu loben

D G A H e d c h

Regers Genie zeigt sich auch darin, dass er sein Opus 52 in zehn Tagen in schönster Schrift niederlegte.

Reger ist Dialektiker par excellence!

Ein kurzes Abstract zu Reger als Dialektiker:

1 In op. 52, 1 erfährt man erst, nachdem das Fortissimo plötzlich einem Pianissimo weicht, was ab jetzt für die Gesamtheit des Opus 52 die tragende Substanz sein wird. Der Schritt in die Erkenntnis ist nämlich auch immer erst ein zweiter Schritt!

In op. 52, 2 ist die allererste Mitteilung die Metapher des in völligem Dunkel liegenden Vollkreises. Er ist eine Weiterführung der beiden Pianissimo-Wendungen aus der Introduktion des op. 52, 1.

Kaum aber hat sich die Gestalt des Vollkreises zu Beginn des op. 52, 2 manifestiert, bleibt es nicht dabei, sondern der Vollkreis wird immer auf’s Neue aufgesprengt: Erweitert, dynamisch gesteigert, aus der Tiefe in lichteste Höhen versetzt, Stringendo-Verläufen ausgesetzt, transponiert bis hin zum katastrophalen Höhepunkt, um plötzlich umzubrechen in die Vision des Heiligen Abendmahls und um nun Jubel erschallen zu lassen: Gloria sei dir gesungen mit Menschen- und mit Engelszungen, mit Harfen und mit Zimbeln schön.

Op. 52, 3: Anfang und Ende fällt in Eins: Er, der Himmel, Meer und Erde mit all ihrer Füll und Pracht durch sein schaffendes »Es werde!« hat aus nichts hervorgebracht: Er, der Herrscher aller Welt, ist’s, der Treu und Glauben hält.

2 In op. 52, 1 erklingt die Introduktion im Fortissimo, erhält aber zwei kurze leise Wendungen, die in die Gesamtheit des op. 52 ausstrahlen.

In op. 52, 2 erklingt die Introduktion im Pianissimo, erhält aber zwei kurze Einwürfe im Fortissimo.

In op. 52, 3 erklingt die Introduktion im Fortissimo ohne gravierende Einwürfe.

3 Hier ist b-a-c-h (op. 46), hier ist r-e-g-e-r (op. 52).
Die erste Setzung des Piano in op. 52, 1 erklingt mittels der Reihung von fis-Moll, e-Moll und d-Moll als Manifestation von Dunkelheit und Tod. Die dann unmittelbar folgende Weiterführung in singulären Achteltriolen lautet:

b-des-A – c′-dis-H

als

b-A-c′-H.

Später werden wir in einer nächsten Erweiterung dann folgendes assoziieren können:

fis – e – d – e – fis

alias

e – d – c – d – e

alias

r – e – g – e – r

4 Hier ist Regers Wissen um den Harmoniebegriff des Barock, der bis in die Bach-Zeit im Sinne der Harmonia aeterna als ›universal‹ angesehen wurde;

da ist aber andererseits Regers Wissen um Bach, der im Sinne der Theologia crucis in vielfältiger Weise mit kompositorischen Brüchen umgeht;

und da ist an der Nahtlinie des 19. zum 20. Jahrhundert der Komponist und Denker Max Reger, der sich – herkommend von romantischen Paradieswelten – mit den Umbrüchen des technischen Zeitalters konfrontiert sieht, in welchem der Wandel nunmehr das Paradigma ist und ein Verharren wollen kein Bleiberecht mehr hat.

5 Reger reagiert auf diese Zeitenwende, in dem er in mystische Bilder insistiert.
Die Metamorphose – der Gestaltwandel – ist dafür ein Kennzeichen:
Der in völligem Dunkel liegende Vollkreis wird aufgebrochen; die Auferstehung der Toten bricht sich Bahn; am Ende erstrahlt der Vollkreis in gleisendem Licht.

Bereits aus dem in E-Dur erklingenden Mittelteil der Passacaglia e-Moll aus op. 16 – E-Dur ist die Tonart von op. 52, 2 – kennen wir die Trost spendende Wendung

e′′-h′-a′-gis′.

In op. 52, 2 begegnet man ihr wieder in den Takten 50 (Diskant), 59 (linke Hand), 69 (e′′′-a′′-gis′′) sowie insbesondere in Takt 78 (Diskant). Im Sinne einer Metamorphose bereitet Reger ab Takt 78 den Weg des wenig später neu eintretenden Fugenthemas. Gestaltwandel vollzieht sich damit einerseits motivisch, andererseits aber durch den Wandel in der Form-Gestalt: Erstmals erklingt nun ab etwa der Mitte des Opus 52 eine Fuge.

6 Als erste Setzung des Piano erklingt fis-Moll (op. 52, 1, T. 5/6);
als erste Setzung des Vollkreises erklingt als dessen Mitte c-Moll (op. 52, 2, T. 1);
Die beiden ersten Töne von Regers Variationen und Fuge fis-Moll op. 73 lauten:

fis′′ – his′

alias

fis – c

Reger lässt daraufhin eine Pause folgen. M.E. macht er damit deutlich, dass fis′′-his′ alias fis-c eine Setzung ist:

fis-Moll und c-Moll stehen (spätestens) seit Regers Opus 52 für Pianissimo und für tiefste Dunkelheit.

Fis-Dur und C-Dur stehen (spätestens) seit Regers Opus 27 für das göttliche Licht, über das es in Ps. 139 heißt:

Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein,
so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag.
Finsternis ist wie das Licht.

Ps. 139, 11 und 12

Op. 52, 1, Fantasie über den Choral ›Alle Menschen müssen sterben‹

Op. 52, 2 Fantasie und Fuge über den Choral ›Wachet auf, ruft uns die Stimme‹

Op. 52, 3 Fantasie und Fuge über den Choral ›Halleluja! Gott zu loben‹
(Zweite Hälfte September 1900, Weiden) Giengen / Brenz 1906