1906: Giengen an der Brenz – Evangelische Stadtkirche

19.03.2023

Orgel-Lehrvideo mit Prof. Dr. h. c. Christoph Bossert an der Orgel der Gebrüder Link, erbaut 1906, in der Evangelischen Stadtkirche in Giengen an der Brenz.

In der evangelischen Stadtkirche in Giengen an der Brenz

Inhalte

I.

Klangliche Kostproben in sechs Bildern

[ 01:28 ]
6

Bild 1: Franz Schubert, Sonate B-Dur 1. Satz, Beginn

[ 04:07 ]
7

Bild 2: Johann Sebastian Bach, Clavier Übung III, Praeludium Es-Dur BWV 552

[ 06:13 ]
7

Bild 3: Aufbau eines Grand Jeu

[ 07:06 ]
8

Bild 4a: Johann Sebastian Bach, Triosonate Es-Dur BWV 525, 3. Satz

[ 11:54 ]
8

Bild 4b: Johann Sebastian Bach, Triosonate c-Moll BWV 526, 1. Satz

[ 13:42 ]
9

Bild 5: Max Reger, Symphonische Phantasie op. 57

[ 15:08 ]
10

Bild 6: Improvisation im Stile der Renaissance, Übergang zu Franz Schubert

[ 17:26 ]
14
II.

Der Spieltisch

[ 26:02 ]
14

Die Walze

[ 27:58 ]
15
III.

Klang-Aufbau, Einzelregister und Registermischungen

[ 31:16 ]
14

Hinführung zum Begriff »Drei Klangsäulen in Europa – Die Europäische Orgel«

[ 33:43; 1:22:39; 1:26:29 ]
16

Die Principal-Orgel

[ 34:20 ]
16

Die Klangkrone

[ 38:16 ]
16

Die Darstellung der Zungenstimmen

[ 41:24 ]
17

Die »Unterscheidlichen« und die Labialstimmen

[ 48:20 ]
17

Die Darstellung der Streicherstimmen

[ 52:57 ]
18

Exkurs zu den Achtfuß-Stimmen

[ 59:24 ]
18

Max Reger (I.)

[ 1:00:14 ]
19

Max Reger (I.)Die Kategorien des Klanges

[ 1:05:48; 1:16:07 ]
19

Der Aspekt Süddeutschland

[ 1:14:29 ]
21

Eine Zeitreise

[ 1:18:37 ]
22

Ein geschichtlicher Ausflug zu Albert Schweitzer

[ 1:24:42 ]
22
IV.

Die europäische Orgel

23
V.

Die Frage nach der Identität dieser Orgel hinsichtlich ihres stilistischen Radius sowie ihrer Grenzen

[ 1:27:57 ]
23

Das Eigentliche an dieser Orgel – Max Reger (II.)

[ 1:51:08 ]
28

Das Register-Crescendo mit Walze

[ 1:56:33 ]
29
VI.

Orgel als Geschichtetes / Dynamische Orgel

[ 2:12:09 ]
33

Literaturverzeichnis

36

Noten- und Klangbeispiele

1.

Christian Fink, Moderato C-Dur

6
2.

Franz Schubert, Sonate B-Dur 1. Satz, Beginn

[ 4:07–5:57 ]
7
3.

Johann Sebastian Bach, Clavier Übung III, Praeludium Es-Dur BWV 552

[ 6:13–6:59 ]
8
4.

François Couperin, Messe pour les Paroisses, Offertoire sur les grands jeux

[ 10:51–11:41 ]
8
5.

Johann Sebastian Bach, Triosonate Es-Dur BWV 525, 3. Satz, Teil I

[ 11:54–12:46 ]
9
6.

Johann Sebastian Bach, Triosonate c-Moll BWV 526, 1. Satz, Anfang

[ 13:42–14:34 ]
10
7.

Max Reger, Symphonische Fantasie op. 57, Beginn

[ 15:08–17:24 ]
13
8.

Orgelsammlung Dr. Gabriel Isenberg

14
9.

Johann Sebastian Bach, Concerto für Orgel a-Moll BWV 593 nach Antonio Vivaldi, Concerto per 2 Violini, Archi e Cembalo a-Moll op. III, Nr. 8 (RV 522)

[ 37:22, 38:08–38:15 ]
16
10.

Johann Sebastian Bach, Triosonate c-Moll BWV 526, 1. Satz, Anfang

[ 13:42–14:34 ]
18
11.

Johann Sebastian Bach, Concerto G-Dur BWV 592 nach Johann Ernst von Sachsen-Weimar

[ 1:07:18–1:07:48 ]
20
12.

Johann Sebastian Bach, Das Wohltemperirte Clavier I, Fuga C-DurBWV846, Soggetto

[ 1:11:41–1:12:09 ]
21
13.

Johann Sebastian Bach, Das Wohltemperirte Clavier I, Praeludium G-Dur BWV 860, Beginn

[ 1:13:08–1:13:21 und 1:13:44–1:14:06 ]
21
14.

Cèsar Franck, Trois Chorals pour Grand Orgue, Choral E-Dur, Beginn

[ 1:19:39–1:19:54 ]
22
15.

Johann Ulrich Steigleder, Tabulatur Buch – Das Vatter unser (1627), Variatio 14

[ 1:30:18–1:31:54 ]
24
16.

Heinrich Scheidemann, Praeambulum in G, Beginn

[ 1:32:13–1:33.00 ]
24
17.

Johann Sebastian Bach, Das Wohltemperirte Clavier Teil II, Praeludium cis-Moll

[ 1:33:54 ff.–1:36:22 ]
25
18.

Johann Sebastian Bach, Triosonate für Orgel C-Dur BWV 529, Satz 1 Allegro

[ 1:36:51–1:37:29 ]
25
19.

Johann Sebastian Bach, Praeludium für Orgel G-Dur BWV 541

(1) [ 1:38:11–1:38:20 ] ohne Stentor-Gambe;
(2) [ 1:38:44–1:39:28 ] mit Stentor-Gambe;
(3) [ 1:39:36–1:40:01 ] im Wechsel;
(4) [ 1:40:32–1:43:46 ] in toto
26
20.

Wolfgang Amadeus Mozart: Ein Stück für ein Orgelwerk in einer uhr [sic] f-Moll KV 594, Einleitungsteil Adagio

[ 1:44:27–1:46:02 ]
26
21.

Wolfgang Amadeus Mozart: Ein Stück für ein Orgelwerk in einer uhr [sic] f-Moll KV 594, Allegro

[ 1:46:06–1:46:55 ]
27
22.

Christian Fink, Moderato C-Dur

[ 1:47:59–1:49:17 ]
27
23.

César Franck, Choral E-Dur, Beginn

[ 1:49:18–1:51:06 ]
28
24.

Max Reger, Pastorale F-Dur aus op. 59, Beginn

[ 1:52:49, 1:54:00–1:54:54 ]
29
25.

Max Reger, Fantasie d-moll op. 135 b, Beginn

[ 1:58:03–1:58:55 ]
30
26.

Max Reger, Zweite Sonate op. 60, 1. Satz, Beginn

[ 2:00:58–2:03:07 ]
33
27.

Christoph Bossert zur Link-Orgel. In: 150 Jahre Orgelbau Giengen (1851-2001), hrsg. von Christoph Naacke (Verlag: Freiburger Musikforum), Giengen/Brenz Seite 164-167

35

Der vorliegende Text ist eine schriftliche Zusammenfassung des Orgel-Lehrvideos mit Notenbeispielen. Zum besseren Verständnis der Literaturbeispiele wird empfohlen, hierfür die Notentexte der angeführten Klangbeispiele bereitzuhalten. Die Notenbeispiele der Abbildungen 1–6 und 9–23 sind von Andrea Dubrauszky (DVVLIO). Angaben zu den Abbildungen 7, 8, 24–26 sind dem Quellenverzeichnis zu entnehmen.

[ 00:53 ]

Einleitende Gedanken

Wir befinden uns in der Evangelischen Stadtkirche in Giengen an der Brenz. Hier steht die Gebrüder Link-Orgel aus dem Jahre 1906. Das Instrument ist in allen Eigenheiten im Original erhalten. Es existieren keine Veränderungen in der Intonation und keine Veränderungen der Disposition. Neben einer Restaurierung (1977) kam 2015 eine Setzer-Anlage hinzu. Das Jahr 1906 bedeutet Spätromantik.

[ 01:28 ]

I. Klangliche Kostproben in sechs Bildern

Die nun folgenden klanglichen Kostproben sollen aufblättern, wie reich die Orgel bis zurück in die Renaissance-Zeit reichen könnte, sofern man es klanglich so verstehen möchte, was die Register mitteilen.

Zitat Christoph Bossert: »Ich selbst habe eine sehr lange Entdeckungsreise mit dieser Orgel verbracht und muss gleich zu Anfang darauf hinweisen: Ich habe diese Orgel erst am Schluss meines Studiums entdeckt, obwohl Stuttgart Luftlinie nur etwa 100 km von hier entfernt ist. Niemand war damals auf einer zustimmenden Seite für diese Orgel. Jeder hat gesagt: ’es ist ein bisschen dumpf, nicht interessant’. Für mich hat sich in der ersten Begegnung mit dieser Orgel eine neue Welt erschlossen, ein völlig neues Nachdenken über die Klanglichkeit bei Max Reger, dessen Musik hier ideal dargestellt werden kann. Aber eben nicht nur Regers Musik, sondern – wie ich bereits angedeutet habe – weite Zeiträume zuvor. Das ist eigentlich ein Wunder:

Ein Wunder für das Jahr 1906; ein Wunder, dass die Orgelbauer Gebrüder Link – hier am Ort in Giengen ansässig – sich solche Gedanken gemacht haben, wie ich sie versuche aufzublättern; ein Wunder an Meisterschaft von Intonation.«

Sechs verschiedene Bilder sollen den Fundus dieser Orgel demonstrieren.

[ 07:06 ]

Bild 3: Aufbau Grand Jeu – François Couperin, Messe pour les Paroisses, Offertoire sur les grands jeux

Vollziehen wir nun den Aufbau eines Grand Jeu an dieser Link-Orgel nach. Er ist selbstverständlich nicht identisch mit dem an einer klassischen französischen Orgel.

Es kann durchaus der Eindruck entstehen, als würde man auf einer Barockorgel spielen. Da sie pneumatisch ist, gibt es immer eine kleine Verzögerung bis der Ton anspricht: Wind strömt ein bis zu einem kleinen Bälgchen, das sich öffnet, wenn die Taste aktiviert wird; dadurch wird der Luftimpuls weitergeleitet. Das heißt, dass sich eine kleine Dosis des Anschlags sehr wohl bemerkbar macht. Zitat Christoph Bossert: »Deshalb sage ich gern über diese Orgel: Sie ist im Kern eine pneumatisierte Barock-Orgel.«

[ 14:34 ]

Bild 5: Max Reger, Symphonische Fantasie op. 57

Wir begegnen hier einem Idealstück für diese Orgel mit Decrescendo, Pianissimo, Einsatz der Walze und des Schwellers.

[ 17:26 ]

Bild 6: Improvisation im Stile der Renaissance, Übergang zu Franz Schubert (s. Bild 1 [ 4:07–5:57 ]).

Verschiedene Registrierungen:

Ausgangs-Registrierung: Stentor-Gambe 8’ (Man. I), Trompete 8’ (Man.II), Vox humana 8’ (Man. III), Violon 8’, Cello 8’, Posaune 16’ (Pedal)

Vergrößerung des Klanges: Trompete 8’ wird durch die Sub-Oktavkoppel [Suboctav-Copplung II.-I.] zu einer 16’-Trompete, Posaune 16’

2. Möglichkeit: Stentor-Gambe 8’ (Man. I, Zitat Christoph Bossert: »Sie reagiert wunderbar auf Länge und Kürze«) mit Vox humana 8’ (Man. III) [+ Copplung III. M. z. I. M.], dazu Trompete 8’ (Man. II), (Vox humana 8’), Traversflöte 4’, Copplung III. M. z. P. (Pedal)

Vergrößerung: + Suboctav-Copplung II.-I., Posaune 16’

Dieser Klang kann immer weiter vergrößert werden:

Fortführung der Improvisation [23:09] und Übergang zu Bild 1: Franz Schubert, Sonate B-Dur [24:07] (siehe Abb. 2, S. 7).

[ 26:02 ]

II. Der Spieltisch

Der Spieltisch kann fast mit einem Cockpit verglichen werden. Der Organist muss sich – wenn er mit einer solchen Orgel arbeitet – zuerst einen Überblick verschaffen. Er muss wissen, welche Registertableaus welchen Manualen bzw. dem Pedal zugeordnet sind. Ebenso gibt es Spielhilfen: Zum einen die sogenannten »Freien Kombinationen«, die der Organist wählen kann; das, was er gewählt hat, kann er durch weitere Knöpfe abrufen. Zum zweiten gibt es feste Kombinationen, die die Gebrüder Link folgendermaßen benannt haben: »Piano«, »Mezzo forte«, »Forte«, »Tutti«, »Flötenchor«, »Gambenchor«, »Labialstimmen«, »Zungenstimmen«. Welche Ästhetik sich mit diesem Spieltisch verbindet, ist an der Schrift und an der kleinen Goldbelegung einzelner Buchstaben zu erkennen und zeigt, wieviel Mühe für die Ornamentik aufgewendet wurde. Das Instrument diente der Firma als Vorführorgel bzw. Muster-Orgel, da sich die Werkstatt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche befand.

[ 27:58 ]

Zu jeder spätromantischen Orgel gehört die Walze. Um diese spielen zu können, ist der »General-Crescendo-Einschalter« zu betätigen, der Klang geht dann vom Pianissimo aus. Hierzu folgt ein Klangbeispiel von Manual I ohne Zuschaltung weiterer Register bis zum »großen Klang« (Zitat Christoph Bossert) und einem anschließenden Decrescendo. Wenn man nicht mit der Walze arbeitet, dann ist es die Aufgabe des Organisten, immer das lauteste Register herauszuhören, um ein Decrescendo zu realisieren. Hierzu muss immer das jeweils dominierende Register gefunden und abregistriert werden. Das Crescendo erfolgt dann in der umgekehrten Richtung.

Ebenso besteht die Möglichkeit, in einen bestehenden Klang – wenn die Walze auf eine bestimmte Stellung gefahren ist – weitere Register von Hand zuzuschalten. So kann man mit der Walze und ineinandergreifend mit Handregistern arbeiten. Möchte man die Handregister schnell abschalten, verwendet man das Register »Verstummung der Handregister«; dann ist nur noch die Walze aktiv. Ein Organist muss also verstehen, wie viele Funktionen ineinandergreifen.

Da leider kaum mehr eine solche Orgel zu finden ist, muss dieses Verständnis von ganz Neuem erarbeitet werden. Auch steht an keiner Hochschule ein solches Instrument zur Verfügung, was zur Folge hat, dass vor Ort gearbeitet werden muss, um sich mit diesen Gegebenheiten, wie sie vor gut 100 Jahren bestanden, sowie mit der Technik von damals vertraut machen zu können.

[ 31:16 ]

III. Klang-Aufbau, Einzelregister und Registermischungen

Es folgt nun die Demonstration des Klangaufbaus dieser Orgel und ein allmähliches Hineinarbeiten in die unterschiedlichen Kategorien: Die bereits gezeigten Kombinationen »Flötenchor«, »Gambenchor«, »Zungenstimmen« sind sehr pauschal.

Die »Unterscheidlichen«

Besonders hervorzuheben ist die Frage nach den »Unterscheidlichen« Registern. In einer deutsch-romantischen Orgel um 1900 sind sehr viele labiale 8’-Stimmen vorhanden. Dies beruht auf einer geschichtlichen Entwicklung in Süddeutschland und den damaligen Ländern der Habsburger Monarchie sowie den angrenzenden Territorien seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und machte die spätere Entwicklung einer deutsch-romantischen Orgel möglich. Zu dieser Zeit entstand der Begriff »Unterscheidliche«.

Im Folgenden geht es darum, was Christoph Bossert später die »Drei Klangsäulen in Europa« nennt. Seine Unterscheidungen sind dabei:

I. Die Principal-Orgel in Italien

II. Die aliquoten- und zungenbetonte Orgel in Westeuropa

III. Die Grundstimmen-betonte Orgel im übrigen Europa

[ 34:20 ]

Der Aufbau der Principal-Orgel, ausgehend von Man. III (romantische Orgel):

Die Modifizierung der Principal-Registrierung, um das folgende Klangbeispiel einzurichten:

[ 38:16 ]

Hinzu kommt die Klangkrone:

Diese Registrierung ergibt einen barocken Klang. Wird sie weiter angereichert, klingt sie schon eher romantisch. Von hier aus gelangt man jederzeit entweder in die eine oder andere Stilepoche.

[ 41:24 ]

Die Darstellung der Zungenstimmen:

Zitat Christoph Bossert: »Es wäre so, als ob ich von Italien – das bis ins 19. Jahrhundert nur die Principal-Orgel kennt, die sich aus dem Mittelalter weiterentwickelt hat – nach Spanien und weiter nach Frankreich und nach Holland und Norddeutschland fahren würde.«

Diese Klänge, wie wir sie von Frankreich her kennen, waren bereits Bestandteil des Grand Jeu (Bild 3 [ 7:06 ]). Hinzu kommen noch weitere:

Aufgrund der Tatsache, dass im 20. Jahrhundert keine romantischen Farben mehr gewünscht waren, »wurde genau wegen dieser Klänge gegen solche Orgeln Krieg geführt« (Zitat Christoph Bossert). Das Giengener Instrument blieb davon verschont und die Orgel blieb entgegen anders lautender Pläne erhalten. Dies war seinerzeit dem französischen Organisten Jean Costa zu verdanken, der in Neresheim und in Giengen konzertierte.

[ 45:06 ]

Systematischer Plenum-Aufbau auf Zungenbasis:

Vergrößerung des Klanges, z. B.:

Die Zungenkraft des Hauptwerks:

[ 48:20 ]

Die »Unterscheidlichen« und die Labialstimmen

[ 52:27 ]

Die Darstellung der Streicherstimmen.

Schärfere Stimmen:

Sanfte Streicher:

Solche Register wurden in Süddeutschland mit Ende des 17. Jahrhunderts erfunden und allmählich in den Orgelbau integriert, aber eben nur in den damals habsburgischen Ländern und angrenzenden Territorien – keinesfalls in Norddeutschland, keinesfalls in Frankreich oder Spanien, auch nicht in Italien.

Besonderheit: Salicional 16’; hier macht sich der ganze edle Klang dieser Orgel fest.

Nun steht die Tür weit offen für alle möglichen Arten von Mischungen, insbesondere wenn man sie mit dem Quintatön etwas einfärbt, z. B.:

Addition: + Viola 8’ (Man. II) oder

[ 56:21 ]

Bereits jetzt ist deutlich wahrnehmbar, wie viele Mischungen es geben kann.

Addition: + Concertflöte 8’ (Man. II, Zitat Christoph Bossert: »eine kleine melancholische Flöte«)

Dunkelfärbung: Salicional 16’

[ 59:24 ]

Exkurs zu den Achtfuß-Stimmen

Als im Barock – insbesondere auch in Thüringen, in Bachs Heimat – die neue Idee aufkam, mehrere Acht-füße zu summieren, hat es der Bach-Schüler Johann Friedrich Agricola die »fremde Wirkung«1 genannt. Die Orgelbauer fürchteten, dass die vielen Achtfuß-Stimmen zu viel Wind verbrauchen würden und dadurch die Orgel störe und unruhig mache. Diese fremde Wirkung ist aber der neue Weg, den die Orgel in Süddeutschland und in dem Raum, in dem Bach gelebt hat, neu beschritten hat. Von hier aus kommt man nahtlos zum leisesten Register dieser Orgel, der Aeoline 8’ (Man. III). Nimmt man hierzu auf diesem Manual III die Voix céleste 8’ und die Gamba 8’ oder die Voix céleste 8’ und Hohlflöte 8’, erschließt sich jetzt der Kosmos, der zu Max Reger führt.

[ 1:00:14 ]

Max Reger schreibt in seinen Partituren für die linke Hand meistens 8’ + 4’, für die rechte Hand möchte er, dass man den Schweller betätigen und auch ein Solo zeigen kann.

Ein Registrierbeispiel:

Der Vierfuß wird hier nicht durch ein einzelnes Register erzeugt, sondern durch diese Oktav-Koppel [Superoctav-Copplung Man. III] Das macht möglich, die Achtfuß-Register des III. Manuals in das II. Manual zu ziehen.

[ 1:02:29–1:3 ]

Improvisation in einer Reger-Registrierung als Aufregistrierung: + Concertflöte 8’, Rohrflöte 8’, Salicional 8’, Viola 8’ / + Traversflöte 4’, - Superoctav-Copplung III.

Beispiel für die Fortsetzung dieses hellen Klanges:

[ 1:05:48 ]

Über solche Orgeln wie diese zu sprechen, die in Süddeutschland seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vom Ansatz her existieren und sich dann durch die Zeiten bis in die Spätromantik weiterentwickelt haben, heißt konsequenterweise im Blick zu behalten, welche Kategorien sich hinsichtlich der Ansprache der Register, der Schattierungen von dunkleren und helleren Farben, der Summierung von Farben, des Anschlags (Behandlung des Windes der Orgel) und schließlich der Artikulation ergeben.

Diese verschiedenen Parameter bilden sich in einer barocken Orgel anders ab als in einer hochromantischen oder – wie hier – in einer pneumatischen und spätromantischen. Die Pneumatik bringt zwar eine Verzögerung des Anschlagimpulses und des Klangresultats mit sich, ist aber dennoch differenzierungsfähig hinsichtlich des Anschlags. Eine Verdeutlichung dessen sollen die folgenden ausgesuchten Beispielen erkennen lassen.

[ 1:07:09 ]

Die Ansprache der Register – Sprechende Charaktere

Besonders das Quintatön 8’ prägt diesen Klang. Je nach der Wahl der Tonlänge entstehen verschiedene Grade von Obertonmischungen. Das Quintatön tritt dann stärker oder schwächer hervor. Die Kunst eines Organisten besteht darin, dieses mittels Anschlag, sowie Länge und Kürze der Töne hervorzurufen.

[ 1:08:53 ]

Die Schattierung des Klanges entsteht durch Addition zweier weitere Register:

Ein Decrescendo ergibt sich durch eine stufenweise Reduzierung der Farben:

Der umgekehrte Weg führt dann zum Crescendo: + Gamba 8’

Die Kritik, so könne man kein barockes Stück registrieren, wird durch das Ohr widerlegt. Das Ohr beurteilt, wie reizvoll diese Mischungen sein können. An Achtfuß-Registern sind vorhanden:

[ 1:11:15 ]

Der Anschlag an einer pneumatischen Orgel

Ein Experiment soll zeigen, ob der Anschlag an einer pneumatischen Orgel eine Rolle spielt oder nicht. Zitat Christoph Bossert: »Ich spiele mit Artikulation, wie ich mir das Thema vorstelle und anschließend neutral (ohne Artikulation). Jeder mag selbst entscheiden, ob er beim ersten Mal etwas Anderes gehört hat als beim zweiten Mal. Das führt jetzt zu den Formen der Artikulation: Offenes Spiel – gebundenes Spiel – die Wege dazwischen«.

Die Widerlegung der landläufigen Ansicht, man könne auf einer pneumatischen Orgel nicht auch schnell spielen, wird durch folgendes Allegro veranschaulicht.

Die klare Artikulation des Principal war deutlich zu hören. Entfernt man den Principal, erklingen noch Quintatön 8’, Doppel-Gedeckt 8’ und Gemshorn 8’. Mit dieser Registrierung klingt die Musik viel geheimnisvoller und es ergibt sich ein völlig anderer Charakter, obwohl die Spielweise die gleiche ist. Zitat Christoph Bossert: »Auch hier öffnet sich ein endloses Gelände und – wie ich unbedingt auch meine – ein ganz weit gespannter Diskurs, den die Orgelwelt neu führen muss.«

[ 1:14:29 ]

Der Aspekt Süddeutschland

Ein hier vielfach praktizierter, besonderer Effekt ist die Kombination von Gambe und Mixtur,3 eigentlich eine »unmögliche« Registrierung (Klangbsp. siehe Abb. 13):

An diesem Beispiel ist der Einfluss von Arm- oder Fingerspiel deutlich zu erkennen.

Verdeutlichung der Parameter Anschlag – Armgewicht – Fingerspiel:

Man sieht die Reaktion des vollen Armgewichtes durch dessen Auswirkung auf den Transport desWindes zum Bälgchen und in die Orgel. Hier befindet sich sozusagen die »Stellschraube« für den gesamten Klang.

Bei Vergrößerung dieses Klangvolumens verstärkt sich die Wirkung noch weiter. Das wird durch eine bewusst extreme Spielweise deutlich und zeigt sich dann anhand später oder sofort ansprechender Register (Mixtur / Mixtur + Stentor-Flöte / Stentor-Flöte allein).

[ 1:18:37 ]

Eine Zeitreise

Ausgangspunkt: Vox humana (Man. III) / Stentor-Gambe und Stentor-Flöte (Man. I)

Zitat Christoph Bossert: »Der Austausch einer einzigen Farbe gegen eine andere Farbe ist der Unterschied von vier Jahrhunderten.« An dieser Stelle sei noch eine Ergänzung zum bereits erklungenen Grand Jeu dieser Orgel angefügt. Addiert man noch die Clarine 4’ dazu, wird der Glanz noch verstärkt.

Das Phänomen der Klanglichkeit dieser Orgel hängt mit der 30 km entfernt stehenden Holzhey-Orgel der Abtei Neresheim zusammen und »dass die Gebrüder Link hier eine Hommage an Holzhey gebaut haben« (Zitat Christoph Bossert).

[ 1:22:39 ]

Joseph Riepp aus Ottobeuren, der Lehrer Holzheys, ging als junger Mann nach Dijon. Er betrieb dort Weinbau und erlernte gleichzeitig den französischen Orgelbau. Er war in der Lage, den klassischen französischen Orgelstil perfekt zu bauen und entschied sich nach seiner Rückkehr nach Ottobeuren, die hier unbekannten französischen Klänge – diesen brillanten Zungenklang – einzubringen. Daraus entstand eine Synthese-Orgel – eine Orgel, die außer dem Quintatön die süddeutschen unterscheidlichen Klangfarben integriert hatte. Sein Schüler Holzhey vollendete die Synthese dadurch, dass er z. B. in Neresheim auch das Quintatön baute, also den süddeutschen Grundlabialstil und den französischen Zungenklang miteinander verband. Ebenso integrierte er die italienische Schwebung – die Voce humana – als Piffaro in diese Orgel.

»Nun liegen zwischen der Konzeption der Orgel hier und der Fertigstellung der Holzhey-Orgel 1797 gut einhundert Jahre. Das ist keine besonders lange Zeit, es sind drei Generationen – und dann sind wir hier bei der Link-Orgel, einer Orgel-Hommage á Holzhey. Deshalb hat diese Link-Orgel diesen barocken Fundus zur Grundlage« (Zitat Christoph Bossert).

[ 1:24:42 ]

Ein geschichtlicher Ausflug

Albert Schweitzer betonte in seiner Schrift Deutsche und Französische Orgelbau-Kunst und Orgel-Kunst4 die Unkenntnis der beiden Orgel-Kulturen von einander. Er bejahte denWeg, den die Romantik mit Cavaillé-Coll in Frankreich und mitWalcker in Deutschland eingeschlagen hatte. Man müsse nur im Blick haben, dass die Orgel hell genug sein solle, um auch Johann Sebastian Bach interpretieren zu können (Elsässische Orgelreform). Link nimmt mit dieser Orgel perfekt die Gedanken von Albert Schweitzer vorweg. Zitat Christoph Bossert: »Ich möchte die Gebrüder Link, was die Durchdringung der Orgelfragen um diese Zeit betrifft, intellektuell auf eine Stufe mit Albert Schweitzer stellen, von dem wir wissen, dass er ein späterer Nobelpreisträger war.«

[ 1:26:29 ]

IV. Die europäische Orgel

Christoph Bossert entwickelt in diesem Video seinen Begriff der »drei Klangstile in Europa«. Die Instrumente in Neresheim und Giengen an der Brenz sieht er hierfür als paradigmatische Beispiele. Verkürzt ausgedrückt sieht er in diesen Orgeln den Prototyp der »Europäischen Orgel«. Dazu listet er die drei Klangstile wie folgt auf:

1. Der Orgelstil der Principal-Orgel aus Italien – hervorgegangen aus der mittelalterlichen »BlockwerckOrgel«

2. Die zungen- und aliquoten-betonte Orgel, die wir inWest-Europa an der Küste entlang finden: Spanien, Frankreich, Holland, Norddeutschland.

3. Die süddeutsche Orgel, die den Grundlabial-Stil in sich integriert, also die Vermischung der einzelnen Achtfuß-Farben und natürlich die Charakterisierung jeder einzelnen dieser Farben. Entscheidend ist, dass dabei Helligkeit, Dunkelheit, Weichheit und Schärfe sowie Obertöne von Quinte oder Terz dafür die Kategorien sind.

[ 1:27:57 ]

V. Die Frage nach der Identität dieser Orgel hinsichtlich ihres stilistischen Radius sowie ihrer Grenzen

Jede Orgel hat ihre Grenzen. Wo verlaufen sie bei diesem Instrument, bei diesem Orgelstil?

Zitat Christoph Bossert: »Das sind – so meine ich – Kleinigkeiten, Feinheiten, mit denen der Organist auch zurecht kommen kann, aber das sind die Grenzen. Deshalb – entlang dieser Grenzen, fragt man sich: Was ist stilistisch angemessen, was nicht? Es zeigt sich jetzt deutlich, dass eine solche Orgel einen Diskurs auslöst, einen Diskurs verdient hat und ihn dringend braucht – also die Verständigung darüber, wo Grenzen verlaufen und wie man mit diesen Grenzen umgeht. Sicherlich hat niemand großen Anlass, sich das 17. Jahrhundert hier an dieser Orgel vorzustellen. Dennoch soll dieser Diskurs zunächst mit der Frage eröffnet werden, ob diese Orgel, trotz gleichstufiger Stimmung und trotz Pneumatik, das 17. Jh. abbilden kann.«

Das erste Beispiel ist Variatio 14 aus den Vater-Unser-Variationen von Johann Ulrich Steigleder, zunächst mit Mixtur, später ohne Mixtur.

Das zweite Beispiel will ausloten, ob es wohl auf dieser Orgel auch möglich ist, norddeutschen Barock, wie ihn Schnitger gebaut hat, zu formulieren: Ein Praeambulum von Heinrich Scheidemann:

[ 1:33:04 ]

Ein nächstes Beispiel: die spätbarocke Epoche zur Zeit Johann Sebastian Bachs. Das Wohltemperirte Clavier ist nicht gerade gewöhnlich, wenn man es auf die Orgel bringt; dennoch gab es im 19. Jahrhundert einige Bearbeiter dieser Stücke für Orgel. Zitat Christoph Bossert: »Ich glaube, dass die süddeutschen Klangfarben ideal zur Darstellung eben auch des Wohltemperirten Clavier von Bach Teil I wie Teil II geeignet sind. Ich habe das cis-moll-Praeludium ausgewählt, um zunächst Quintatön 8’ zu demonstrieren. Hier fällt natürlich jede Reibung, die die Stimmung an einer historischen Barock-Orgel verursachen würde, weg.«

Zitat Christoph Bossert: »Im Vergleich dazu:

Ein ganz anderer Charakter eröffnet sich, wenn wir noch einmal in die Fragen der Triosonaten hineingehen. Wie hell, wie barock hell – sagen wir à la Gottfried Silbermann – kann diese Orgel klingen?«

[ 1:37:30 ]

Es stellt sich nun die Frage nach dem Plenum einer solchen Orgel für die Zeit von Johann Sebastian Bach und für Bach selbst: Diese Link-Orgel hat keine Mixtur ohne Terz. Dies ist zwar eine Grenze dieser Orgel, aber für das Praeludium G-Dur BWV 541 ist das sehr passend.

Zu den Principal-Registern kommt hinzu: + Quintatön 8’ / kein großer Principal (Man. I)

Fundament: Quintatön 8’, Gemshorn 8’ (Man. I); Principal 8’ (Man. II); Geigen-Principal 8’ (Man. III)

[ 1:43:47 ]

Die Zeit des Rokoko, also die Zeit von Wolfgang Amadeus Mozart, entspricht der Zeit der Erbauung der Holzhey-Orgel 1797 von Neresheim. Neresheim ist offensichtliches Vorbild für die Orgel in Giengen.

Ein Beispiel dafür ist der langsame Einleitungsteil der f-Moll-Fantasie KV 594 mit Concertflöte 8’, die mit ihrer gebrochenen Klangfarbe sehr beeindruckend für dieses Stück ist.

[ 1:46:57 ]

Die Epoche der Romantik schließt sich hier nahtlos an. Die nächsten beiden Beispiele sollen zwei deutlich kontrastierende, aber dennoch verwandte Elemente einander gegenüberstellen: (1) Christian Fink, (2) César Franck.

Christian Fink, ein süddeutscher Komponist, studierte etwa 1850 am Leipziger Konservatorium – kurz nach dessen Gründung durch Mendelssohn. Fink wirkte 50 Jahre in Esslingen am Neckar.

[ 1:51:08 ]

Max Reger

Zitat Christoph Bossert: »Wir kommen zum Eigentlichen an dieser Orgel. Aber was ist das Eigentliche und was ist es nicht? Wie weit haben die Gebrüder Link nachvollzogen, dass ein junger Komponist aus der Oberpfalz namens Max Reger jetzt in Deutschland immer aktiver wird? Welche Reger-Orgel liegt hier in Giengen vor, obgleich sie zugleich eine Renaissance-, eine Barock-, eine Rokoko- und eine romantische Orgel sein kann?

Eine der wichtigsten Fragen bei Reger ist das Pianissimo und die Schwellbarkeit beider Stimmen (linke Hand: 8’, 4’, rechte Hand 8’). Ich muss deutlich ausdrücken, dass die meisten heute gebauten Orgeln an diesem Punkt versagen. Da an dieser Orgel nur ein Schweller vorhanden ist, muss der Organist das Problem lösen. Das ist ein nächster, sehr wichtiger Punkt für unseren Diskurs.«

Registrier-Beispiel zur Problemlösung:

Die Addition und Reduktion passender Register bedeutet einen großen Arbeitsaufwand, der aber notwendig ist, um Regers Musik wiederzugeben. Zitat Christoph Bossert: »Die Orgel muss auch so kunstvoll gebaut sein, dass dies bruchlos geschehen kann. Hier hat der moderne Orgelbau eine Bringschuld, da der wichtigste Komponist nach Johann Sebastian Bach in Deutschland – Max Reger – auf den meisten heute bestehenden Orgeln nicht stilgerecht dargestellt werden kann.«

[ 1:56:33 ]

Das Register-Crescendo mitWalze.

Ist keineWalze vorhanden, muss bspw. zu Beginn der Fantasie d-Moll, op. 135 b von Max Reger ab der Anweisung Crescendo bei jeder Achtelnote, aber mindestens bei jedem Viertel, ein Register dazu geschaltet werden. Ausgangsposition: Bourdon 16’, Traversflöte 4’, General-Crescendo-Einschalter (Aktivierung der Walze); bei einem Wechsel auf Man. I kommen Handregister hinzu. Die Aktivierung der Kombination ermöglicht ab T. 5 einen sofortigen Übergang ins Piano. Bereits auf engstem Raum weniger Takte findet die ganze Komprimiertheit technischer Abläufe dieser spätromantischen Orgel statt.

[ 1:59:10 ]

Zum Abschluss dieser Fragestellungen hinsichtlich der Darstellung von Max Regers Werk an dieser Orgel: Max Reger, 2. Sonate d-moll op. 60, ein Teil vom Anfang des 1. Satzes.

Zitat Christoph Bossert: »Ohne zwei Assistenten möchte ich hier keinen Reger spielen, wiewohl die Orgel jetzt eine moderne Setzeranlage hinzubekommen hat. Ich bin auch der Meinung, dass zur Darstellung der Reger’schen Musik viele technische Aktionen notwendig sind. Als Spieler sehe ich mich nicht im Stande, die Handregister zusätzlich zu betätigen. Ich meine, dass man sich die Interpretation von Regers Musik an einer solchen Orgel durchaus im Trio vorstellen kann, vielleicht sogar vorstellen muss. Zwei Registranten auf beiden Seiten und ich als Spieler. Es ist für mich ganz offensichtlich, dass Reger diese Entscheidungen an die Organisten und deren Praxis, deren Gewohnheiten und Vorlieben abgetreten hat. Er hat sich darauf konzentriert, sein kompositorisches Werk so klar wie möglich niederzulegen, vor allem im Sinne einer orchestralen Sprache. Die Orgel soll jetzt wirklich so glaubhaft, so gut, sagen wir durchaus so perfekt wie möglich ein Sinfonieorchester abbilden.«.

[ 2:03:08 ]

Max Reger, Symphonische Phantasie op. 57, Beginn [ 2:03:08–2:05:22 ] (Siehe Klangbsp. 7, S. 13)

Zitat Christoph Bossert: »Noch immer sind nicht alle Ebenen der Link-Orgel in Giengen ausgeleuchtet. Welche könnte noch fehlen? Ein gesamtes 20. Jahrhundert folgt auf 1906. In welche Zukunft hinein hat sich diese Orgel entfaltet? 20 Jahre später, ab 1925, hält die sogenannte ’Deutsche Orgelbewegung’ von Hamburg aus Einzug in die deutsche Orgelwelt: Ein beispielloser Kreuzzug gegen die romantische Orgel beginnt. Manche dieser Orgeln wurden im Krieg zerstört; aber etliche Orgeln, wie – unweit von hier – die große Walcker-Orgel mit 100 Registern im Ulmer Münster wurde noch 1970 vernichtet. Aber diese Walcker-Orgel war das Bindeglied zu Cavaillé-Coll und zu Frankreich – St. Sulpice. Cavaillé-Coll war voller Bewunderung, weil er Walcker in Ulm besucht hat. Er hat ihm zu diesem Orgelwerk gratuliert und beschlossen, Walcker dadurch ein Denkmal zu setzen, dass er die Orgel in St. Sulpice exakt auch wieder mit 100 Stimmen [Registern] ausgestattet hat.

Aber diese Orgel hier in Giengen hat diesen Feldzug überlebt. Im Laufe der Jahre – schon von den 1960er Jahren aus – haben sich mit Mauricio Kagel, Bengt Hambraeus, Giörgy Ligeti – völlig neue Klangwelten eröffnet. Also, auch solche Dinge sind dann Musik.« [Klangbsp.: moderne zeitgenössische Improvisation].

[ 2:12:09 ]

VI. Orgel als Geschichtetes / Dynamische Orgel

Zitat Christoph Bossert: »’Orgel als Geschichtetes’ – ’dynamische Orgel’. Das sind für mich die beiden wesentlichen Begriffe, um über das Phänomen Orgel zu sprechen.5

Was meine ich mit dem Begriff – Orgel als Geschichtetes?

Kein Instrument hat eine so komplexe Geschichte wie die Orgel, und kein Instrument kann diese Geschichte – wenn sie so gebaut ist, wie in Giengen – in einem einzigen Instrument tatsächlich beherbergen. Wir haben gesehen: Tausche ich das Register Gemshorn gegen Vox humana, wird aus der Mischung, die gerade noch zu hören war, eine völlig andere Farbe; schon beginnt die Reise durch das Instrument, eine Reise durch die Zeit in die Renaissance zurück, in die Zeit von Bach, in die Zeit von Reger, zurück zu Heinrich Scheidemann und Steigleder – und wo auch immer hin. Auch die zeitgenössische Musik hat hier ihren Ort, und zwar in spektakulärer Weise. Das meine ich mit dem Begriff Orgel als Geschichtetes. Selbstverständlich muss es immer um die Frage gehen: Wie kann man eine Starre, die mit dem Instrument Orgel – wie bspw. auch mit dem Instrument Klavier als perkussivem Phänomen –, wie kann man mit den Parametern, die vorgegeben sind, so umgehen, dass ich die Starre vergessen kann? Das war das Anliegen aller guten Orgelbauer, das war das Anliegen aller Komponisten, in diese Richtung zu arbeiten und darum muss es auch in Zukunft gehen: Es muss um einen Diskurs gehen, ohne Scheuklappen, in völliger Offenheit, aufgeschlossen für all die Phänomene, die bereit stehen für unsere Wahrnehmung.«

Zum Ausklang: Franz Schubert, Sonate B-Dur, 1. Satz; Klangbeispiel siehe S. 7, Abb. 2.

Zitierte Literatur- und Notenbeispiele

Literatur

ADLUNG, Jacob: Musica mechanica organoedi, Erfurt 1758, Kap. VIII., §232 S. 168–169.

AGRICOLA, Johann Friedrich, Sammlung einiger Nachrichten von berühmten Orgelwerken in Teutschland, mit vieler Mühe aufgesetzt von einem Liebhaber der Musik. Breslau verlegts Carl Gottfried Meyer. 1757. In: Friedrich Wilhelm Marburg: Historisch-Kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik, Bd. III, Berlin 1757/58 (Reprint: Hildesheim 1970), S. 486–518, Zitat S. 505. (Online-Version in: Bayerische Staatsbibliothek, Münchner Digitalisierungszentrum. Permalink: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb11044341 [ 18.06.2022 ]).

BOSSERT, Christoph: Orgel als Geschichtetes. In: Musik und Kirche Bd. 67, Kassel 1997, S. 111-116.

NIEDT, Friedrich Erhard: Friederich Erhard Niedtens Musicalischer Handleitung Anderer Theil, Von der Variation des General-Basses, Samt einer Anweisung, Wie man aus einem schlechten General-Baß allerley Sachen als Præludia, Ciaconen, Allemanden, &c. erfinden könne. Die Zweyte Auflage, Verbessert, vermehret, mit verschiedenen Grundrichtigen Anmerckungen, und einem Anhang von mehr als 60. Orgel-Wercken versehen durch J. Mattheson, Hamburg: Benjamin Schillers Wittwe & Joh. Christoph Kißner, 1721.

SAMBER, Johann Baptist: CONTINUATIO AD MANUDUCTIONEM ORGANICAM, Das ist: Fortsetzung zu der Manuduction oder Hand-Leitung zum Orgl-Schlagen. Gedruckt bei Johann Baptist Mayr seel. Wittib und Sohn, Salzburg 1707.

SCHWEITZER, Albert: Deutsche und Französische Orgelbau-Kunst und Orgel-Kunst, Leipzig 1906.

Notenbeispiele

Abb. 7 Max Reger, Symphonische Fantasie und Fuge d-Moll op. 57, Fantasie. URL: https://imslp.hk/files/imglnks/euimg/2/2b/IMSLP544775-PMLP13938-Reger-organ-works-vol-1_symphonische-fantasie-fuge-op57_pp53-87.pdf, Abruf: 19.05.2022.

Abb. 23 Max Reger, Zwölf Stücke op. 59, Pastorale F-Dur. URL: https://s9.imslp.org/files/imglnks/usimg/d/dd/IMSLP06019-Reger-op59-heft1.pdf, Abruf: 19.05.2022.

Abb. 24 Max Reger, Fantasie d-Moll op. 135b. URL: https://imslp.eu/files/imglnks/euimg/e/ec/IMSLP464887-PMLP15843-op.135b.pdf, Abruf: 19.05.2022.

Abb. 25 Max Reger, Zweite Sonate d-Moll op. 60, Improvisation. URL: https://imslp.hk/files/imglnks/euimg/d/d3/IMSLP551073-PMLP10652-reger_sonata-no2-d-minor_op60_pp36-68.pdf, Abruf: 19.05.2022.

Internetquellen

Orgelsammlung Dr. Gabriel ISENBERG: Fotos Spieltisch: 20.07.2012. URL: https://www.orgelsammlung.de/orgelsammlung/441/, https://www.gabriel-isenberg.de/, letzter Abruf: 18.08.2022.