Stimmungssysteme

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Stichworte:
Gleichstufige / gleichschwebende Stimmung, wie sie heute die Regel ist
vs.
Physik der Teiltöne sowie der Kombinationstöne, wie sie sich in jeder klanglichen Erscheinung als ‚Klangfarbe‘ einstellt und in besonderer Weise das Instrument Orgel prägt
vs.
Sinuston.

Die sogenannte ›ungleichstufige‹ oder auch ›ungleichschwebende‹ Stimmung ist anhand sehr unterschiedlicher Stimmungssysteme insbesondere historisch verortet, findet jedoch in den letzten Jahrzehnten wieder zunehmend hohe Beachtung.

Die Problematik, die zu diesen Stimmungssystemen führt, ist das sogenannte ›Pythagoreische Komma‹. Damit verbindet sich folgendes:
Eine Schichtung von zwölf reinen Quinten als
Subcontra C-Subcontra G / Subcontra G-Contra d / Contra d-Contra a / Contra a-E / E-H / H-fis / fis-cis′ = ges-des′ / cis′-gis′ = des′-as′ / gis′-dis′′ = as′-es′′ / dis′′-ais′′ = es′′-b′′ / ais′′-eis′′′ = b′′-f′′′ / eis′′′-his′′′ = f′′′-c′′′′
führt im Vergleich von Ton Subcontra C und dessen reinen Octav-Schichtungen nach oben zu c‘‘‘‘ und dessen reinen Octav-Schichtungen nach unten zu einer Divergenz im Verhältnis von 80 : 81. Diese Divergenz wird ›pythagoreisches Komma‹ genannt.

An dieser Divergenz entzünden sich seit Jahrhunderten vielfältigste Diskurse. Diesen Systemen liegen unterschiedliche harmonikale Prämissen wie Reinheit von Oktaven und Quinten (pythagoreisch), Terzenreinheit (mitteltönig) oder Modifikationen der Quintenreinheit (Temperierungen der Bach-Zeit) zugrunde, die sich jedoch logischerweise jeweils nur partiell umsetzen lassen. Welche Intervalle in der Stimmungsart dann bevorzugt konsonant behandelt werden und welche nicht, entscheidet sich an Übereinkünften bezüglich der Charakteristik einer jeweiligen Tonart sowie der Häufigkeit / Nichthäufigkeit ihres Gebrauchs.

Pythagoreische Stimmung
Die Stimmung wird in der Regel anhand einer reinen Quint als Ausgangspunkt angelegt und dann in reinen Intervallen beispielsweise so weiter verfahren:
c°-g° - g°-d° - d°-a° - a°-e° - e°-h° - h°-fis° - fis°-cis′ – cis′-gis°//
nun werden zu diesen Tönen die Oktaven gestimmt // es folgt:
c′-f° - f°-b° - b°-es°//

Zwischen den Tasten es und gis kommt es zum sogenannten ‚Wolf‘ oder der ‚Wolfsquinte‘. Ihr Zusammenklang bleibt vom Gebraucht streng ausgenommen.

Der Logik des pythagoreischen Systems folgend ist das Resultat einer reinen Terz ausgeschlossen. Große wie kleine Terzen haben jeweils eine eigene Innenspannung. Im Gebrauch entsprechender Instrumente, also der gotischen Orgel, des Portativs bzw. des Organetto in der Zweistimmigkeit vorzugsweise Quinten, Quarten und Terzen sowie gemäß der Diminutionspraxis, die ›Tactus‹ genannt wird, entsprechende sehr kurzzeitig erklingende Durchgangsintervalle. Die Dreistimmigkeit kommt in eher frühen Tabulaturen und im Organetto-Spiel nur sporadisch zum Einsatz als Zusammenklang im Oktavraum mit Quint oder als Klauselbildung: Lautet der Zielklang beispielsweise d-a-d′, so lautet der vorhergehende Klang e-gis-cis′.

In Traktaten zu Ars organisandi gibt es Kapitel über Kontratenor. In den späteren Tabulaturen (Lochamer Liederbuch, Buxheimer Orgelbuch) wurde die dritte Stimme dann regulär.

Mitteltönigkeit
Gegenüber der pythagoreischen Stimmung der reinen Quinten – ausgenommen die sogenannte ›Wolfsquinte‹ es-gis – gelangt nun die reine Terz in den Fokus. Es entsteht nun ein System aus prinzipiell vier Kategorien:
a Die Wolfsquint es-gis als ›relatio non harmonica‹;
b Schwebungen bei den übrigen Quinten.
c Acht reine Terzen c-e, d-fis, es-g, e-gis, f-a, g-h, a-cis, b-d;
d vier verminderte Quarten cis-f, fis-b, gis-a, h-es.

Ein Gebrauch der Klaviatur im Sinne beispielsweise von cis-eis oder des-f wie ebenso von es-gis ist damit kategorisch ausgeschlossen.

Um Klauselbildungen wie beispielsweise e-dis-e oder um die Exclamatio g-as-g zu ermöglichen, werden Klaviaturen insbesondere in Deutschland vermehrt mit ›gebrochenen Tasten‹ (tasti spezzati) es/dis und gis/as ausgestattet.

Gebräuchliche Temperierungen einer Stilistik der Bach-Zeit sind beispielsweise:

Werckmeister

Neidhardt, kleine Stadt

Neidhardt, große Stadt

Kirnberger (mehrere Systeme)

Valotti

Bach-Kellner

Hierzu bedarf es der detaillierten Beschreibung, die den Radius eines Glossar-Artikels übersteigt.

Zum weiteren Verständnis:
Musik des Spätmittelalters bedarf der pythagoreischen Stimmung.
Musik des 16. und 17. Jahrhunderts bedarf der mitteltönigen Stimmung.
In Werken von Pachelbel (Hexachordum Apollinis), Fischer (Ariadne Musica), J. S. Bach (Das Wohltemperirte Clavier) bedarf es neuerer Stimmungssysteme.

In der Zeit nach Beethoven setzt sich für die Tasteninstrumente zunehmend die gleichstufige Stimmung durch, während hierzu im Orchester ein erbitterter Meinungsstreit vorherrscht. Beispielsweise bei den Hörnern macht sich dieser Streit am ›Naturhorn‹ vs. ›Ventilhorn‹ fest. Die Intonation insbesondere der Gruppe der Blechbläser bedarf der ‚reinen‘ Intonation, was gegenüber anderen Instrumentalgruppen zu nächsten Diskursen führt. Bei Streichinstrumenten ergeben sich insbesondere in Kategorien wie dem Streichquartett unter stilistischen Aspekten Abwägungen im Gebrauch von / Verzicht auf Vibrato, um auch reine Arten der Intonation zur Geltung kommen zu lassen.

In den vergangenen 4 Jahrzehnten haben sich anhand der sog. ›historischen Aufführungspraxis‹ bzw. der sog. ›informierten Aufführungspraxis‹ zu diesen Fragen neue Diskurse herausgebildet.

Während historische Orgeln, historische Repliken oder historisch orientierte Orgeln heute – mit Ausnahme insbesondere von Orgeln Gottfried Silbermanns – weitgehend in entsprechenden historischen Stimmungen erklingen, behauptet sich die gleichstufige Stimmung auf Orgeln der Gegenwart nahezu ausnahmslos. Die Orgel im Konzertsaal der Hochschule für Musik Würzburg ist dazu ein bewusst gesetzter Gegenentwurf.

Weitere Fragestellungen sollen wenigstens angedeutet werden:
Stimmtonhöhe: Chorton vs. Kammerton im Barock; Pariser Kammerton des 19. Jh.; moderne Stimmtonhöhe […].

Blasinstrumente intonieren solange reine Dreiklänge, bis es zur Ablösung durch Ventilbasierte Instrumente kommt […].

Es kommt immer wieder in der Geschichte des Cembalobaus zu deutlich mehr Tasten /Saiten innerhalb der Oktav, um der ›reinen Stimmung‹ möglichst nahe zu kommen […].

Griechisches Stimmungssystem / Griechische Orgel […].

Altarabische Stimmungssysteme […].

Der Japaner Tanaka entwickelt um 1870 ein Harmonium in reiner Stimmung, führt es Anton Bruckner vor, der sich begeistert zeigt und entwickelt eine Orgelkonstruktion für eine Orgel in reiner Stimmung (ein entsprechendes Harmonium sowie Konstruktionszeichnungen sind im Walcker-Archiv erhalten).

Der Prototyp einer kleinen von Orgelbau Voigt in Bad Liebenwerda und dem Ingenieur Morlock in Kooperation mit der FH…entwickelten ›selbststimmenden Orgel‹ befindet sich heute in Eisleben. Per Knopfdruck kann man dort 100 verschiedene Stimmungen auswählen. Hat man eine Wahl getroffen, so justieren kleine Stellmotoren entsprechende Stimmschieber. Im Angebot der Stimmungen ist auch die ›reine Stimmung‹ von Dreiklängen enthalten. Dabei ist die Frage nach dem Gebrauch enharmonischer Töne berührt: Eine Software ist in der Lage, je nach harmonischer Konstellation in kürzester Zeit beispielsweise die Umstimmung von ›Ton es‹ nach ›Ton dis‹ zu bewerkstelligen. Im enharmonisch intendierten Satz kommt es dementsprechend permanent zu Schwankungen und somit zu neuen Ebenen des Hörens.

Den Umgang mit Vierteltonstimmung kann man beispielsweise an der Rieger-Orgel (20…) in der Martinskirche Kassel erproben.

Ein Sechzehntelton-Klavier der Fa. Sauter / Spaichingen steht in Paris, Conservatoire supérieure. Dabei wird der Ganztonschritt nicht in zwei, sondern in sechzehn Schritte unterteilt. Das Instrument kam bei der der »Ersten Internationalen Woche für Neue Orgelmusik, Trossingen 1997« zum Einsatz. Es verfügt über eine herkömmliche Klaviatur. Dort, wo man gewöhnlich die Oktav eines Tones vorfindet, erklingt nun ein nächster Ganztonschritt. Dementsprechend wird ein klingender Oktavraum ab Contra-C auf der Klaviatur in Contra-C – C als ...., c°, c′ ausgeschritten.

Utopie:
Athanasius Kircher entwirft in seiner Musurgia Universalis (1650) die Utopie einer Weltenorgel: Anstelle der Formation von Obertasten in der Folge zwei und drei ordnet er stets drei Obertasten an:

cis dis eis gis ais his dis eis fisis
c d e fis g a h cis d e fis gis a

Wie ist eine derartige Klaviatur beherrschbar?
Und welche Stimmungsart könnte sie wohl haben?
Meine Antwort lautet: Nur Gott kann seine Weltenorgel spielen und nur er kennt die wahre Art ihrer Stimmung.

CB