Scheibe, Johann Adolph

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Aus: Johann Adolph SCHEIBE, Der critische Musicus. I, Hamburg 1738, II, Hamburg 1740, I und II, Leipzig 1745: Erster Theil. Sechstes Stück. Dienstags den 14 May, 1737., S. 46 f. URL, a [01.03.2023] – Nachdruck: Johann Adolph Scheibens, […] Critischer Musicus. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig 1745. Reprint (des Nachdrucks): Hildesheim 1970.

»Dienstags, den 14 May, 1737.
– S. 46 – Der Herr … ist endlich in … der Vornehmste unter den Musicanten. Er ist ein ausserordentlicher Künstler auf dem Clavier und auf der Orgel, und er hat zur Zeit nur einen angetroffen, mit welchem er um den Vorzug streiten kan. Ich habe diesen grossen Mann unterschiedene mahl spielen hören. Man erstaunet bey seiner Fertigkeit, und man kan kaum begreifen, wie es möglich ist, daß er seine Finger und seine Füsse so sonderbar und so behend in einander schrencken, ausdehnen, und damit die weitesten Sprünge machen kan, ohne einen einzigen falschen Thon einzumischen oder durch eine so heftige Bewegung den Körper zu verstellen. Dieser grosse Mann würde die Bewunderung ganzer Nationen seyn, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugrosse Kunst verdunkelte. Weil er nach seinen Fingern urtheilet, so sind seine Stücke überaus schwer zu spielen; denn er verlangt[,] die Sänger und Instrumentalisten sollen durch ihre Kehle und Instrumente eben das machen, was er auf dem Claviere spielen kan. Dieses aber ist unmöglich. Alle Manieren, alle kleine Auszierungen, und alles, was – S. 47 – man unter der Methode zu spielen versteht, druckt er mit eigentlichen Noten aus; und das entziehet seinen Stücken nicht nur die Schönheit der Harmonie, sondern es macht auch den Gesang durchaus unvernehmlich. Alle Stimmen sollen mit einander, und mit gleicher Schwierigkeit arbeiten, und man erkennet darunter keine Hauptstimme. Kurz: Er ist in der Music dasjenige, was ehmals der Herr von Lohenstein in der Poesie war. Die Schwülstigkeit hat beyde von dem natürlichen auf das künstliche, und von dem erhabenen auf das Dunkle geführet; und man bewundert an beyden die beschwerliche Arbeit und eine ausnehmende Mühe, die doch vergebens angewendet ist, weil sie wider die Natur streitet.«

Diese polemischen Äußerungen Scheibes gegen J. S. Bach veranlassten Johann Abraham Birnbaum, »Leipzig Anfang JANUAR 1738 Unpartheyische Anmerckungen über eine bedenckliche stelle in dem Sechsten stück des Critischen Musicus« zu verfassen. Hierin wählt er obige Stelle aus, da er sich der Wahrheit wie auch der Hochachtung vor Bach verplichtet sieht, dessen Ehre zu retten. Birnbaum nimmt jeden Satz von Scheibe auseinander und versieht ihn mit entsprechenden Bemerkungen. Seine ausführliche Abhandlung beschließt Birnbaum mit dem Wunsch, der Verfasser [Scheibe] möge

»künfftig gesundere gedancken, und nach überstandener musicalischen reise den glücklichen anfang eines neuen lebens, das von aller unnöthigen tadelsucht völlig möge befreyet seyn.«

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