Orgel als Orchester-Ersatz
Die Orgel als Orchester-Ersatz war in etlichen Klosterkirchen Usus. Damit kommt die Relation Knabenchor vs. Orgelbegleitung und das Moment klanglicher Flexibilität der Orgelpraxis in den Blick.
Belegt ist dies beispielsweise durch Kloster Banz und dessen Leiter der Klostermusik Valentin Rathgeber /1682 – 1750) für die dortige Seuffert-Orgel von 1737 sowie durch das Benediktinerkloster Villingen für die dortige Orgel von Johann Andreas Silbermann aus dem Jahr 1752. Aus Villingen ist anhand von Akten bekannt geworden, dass im Zuge des Orgel-Akkordes [Orgelakkord meint: Vertragsabschluss über den Orgelneubau] im Echo (Manual III) ausnahmsweise auch die Basslage besetzt wurde durch das Register ›Fagotto 8‹. Hiervon versprach man sich, dass es nun keinen Fagottisten im Orchester mehr brauche, sondern dass die Orgel ab jetzt diese Funktion mitübernehmen könne.
Für die Praxis an der Orgel ergeben sich weitere wichtige Aspekte:
1 Während heute zumeist Truhenorgeln mit geringem Volumen und – daraus resultierend – einer zu hohen und wenig tragfähigen Klanglichkeit leider zum Alltag heutiger barocker Kantaten- und Oratorienaufführungspraxis gehört, wurden in historischer Zeit dafür die jeweiligen Kirchenorgeln genutzt. In Italien erklang damit grundsätzlich – weil ohne Alternative – der Principale 8′ als das verbindliche Grundregister.
2 Gioachino Rossini schreibt seine Petite Messe solennelle in deren erster Fassung für Chor, Soli, zwei Klaviere und Harmonium (1863). 1866/67 instrumentiert er anstelle dieser Instrumente einen Orchesterpart.
3 Die Erstfassung der Messe D-Dur von Antonin Dvorak war 1887 für die Einweihung der Schloss-Kapelle auf Schloss Luzany in Böhmen konzipiert. Dort hatten auf einem vierseitigen Chorumgang je vier, also insgesamt 16 Sänger Platz und es stand eine einmanualige Orgel mit sieben Registern zur Verfügung. Diese Örtlichkeit samt Orgel ist bis heute authentisch erhalten. Die erste öffentliche Aufführung der Messe D-Dur fand dann im April 1888 im Stadttheater zu Pilsen mit Harmonium sowie einer Bassgruppe aus Kontrabass und Violoncello statt. Im dritten Schritt entschloss sich Dvorak, den Instrumentalpart für Orchester zu instrumentieren (1892, Novello).
Anmerkung: Der Melodiezug der Worte Credo in unum Deum aus Dvoraks Mess-Komposition entspricht der Melodik der Takte 3 und 4 des Originalthemas von Max Reger, das er seinen Variationen und Fuge fis-Moll op. 73 zugrunde legt. Inwieweit hier ein Querbezug zwischen Dvorak und Reger vorliegen könnte, muss dahingestellt bleiben.
4 Aus mündlichen Berichten ist bekannt, dass chorbegeisterte kleinere Kirchengemeinden beispielsweise in Thüringen Werke wie das Deutsche Requiem von Johannes Brahms aus Kostengründen mit Chor und Orgel aufführten. Und so möge in Erwägung gezogen werden, dass Orgeln, die über ansprechende Klangfarben verfügen, jederzeit für eine solche Praxis geeignet sind.
5 Es kann auch empfohlen werden, den Instrumentalpart beispielsweise einer Bach-Kantate auf der Orgel wiederzugeben. Bach selbst hat dazu Vorlagen geliefert:
a Bach transkribiert in Weimar italienische Concerti grossi für die Orgel.
b Derselbe Satz fungiert einmal als Preludio E-Dur für Violine Solo BWV 1006 (1720) und einmal als Sinfonia mit konzertierender Orgel in D-Dur als Kantate zum Ratswechsel in Leipzig 1731 Wir danken dir, Gott, wir danken dir BWV 29, aus der andererseits später das Gratias agimus und das Dona nobis pacem der Hohen Messe h-Moll hervorgeht.
c Die Sätze 1 und 2 des Violinkonzerts vs. Cembalokonzerts d-Moll BWV 1052 erhalten später neue Funktionen. Satz 1 wird in der Kantate Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen BWV 146 zur Sinfonia mit obligater Orgel. Satz 2 erhält in dieser Kantate nun die Funktion des Eingangschores. Aus dem vormals langsamen Satz eines Instrumentalkonzerts entsteht jetzt ein frei figurierender bzw. homophoner Chorsatz über den Text Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen, zu welchem eine obligat konzertierende Orgelstimme hinzutritt, die das vokale Gewebe kunstvoll umspielt.
Freilich könnte man auch sagen: Die konzertierende Orgel wird in diesem Kantatensatz kunstvoll umgeben von vier Vokalstimmen, sodass sich beide Klangebenen wechselseitig durchdringen. Hinzu kommt der hermeneutische Aspekt, dass ein ursprünglich nicht textiertes Instrumentalkonzert nunmehr einen Textbezug erhalten hat.