Klarinettenfarbe

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Während bis Ende des 17. Jahrhunderts die Schalmei noch die übliche Bezeichnung für Rohrblattinstrumente war, dringt allmählich von Frankreich her die Oboe stärker durch (siehe E. F. Schmid, Die Orgeln von Amorbach, 1938, S. 66).

Klarinetten – der Name ist ein Diminutiv von ›Clarine‹ – ist ab 1712 in der Ratsmusik zu Nürnberg nachweisbar. 1713 erwähnt Johann Mattheson sie in Das Neu-Eröffnete Orchestre. Zuvor war die Klarinette auf der Messe in Frankfurt / Main präsentiert worden.

Im Orchester bilden die Blasinstrumente in ihrer Betonung der ungeraden Teiltöne vom Grundsatz her das Komplement zu den Streichinstrumenten, denn dort dominieren die geradzahligen Teiltöne. Mit der Klarinette tritt neben Teilton 5 als Terz insbesondere Teilton 7 als Septim hervor. Es bedeutet einen spannenden Diskurs, den Bach von Weimar aus anstößt, indem er für einen Orgelneubau in Bad Berka das Register ›Tritonus‹ disponiert, wenngleich Bachs Disposition dort dann nicht zum Zuge kam. Da der Name ›Tritonus‹ den Ambitus von drei Ganztönen meint, liegt es nahe, dass Bach mit diesem Register die Verbindung der Teiltöne Terz und Septim intendierte. Eine derartige Mischung gibt es in der Geschichte des Orgelklanges zuvor nicht. Gerald Woehl realisierte diese Disposition 1990 als ›Bach-Orgel‹ in der Erlöserkirche Bad Homburg, doch das Register ›Tritonus‹ ist dort lediglich eine Terz.

Grundsätzlich ergeben sich ›Klarinettenfarben‹ in der Orgel anhand von Mischungen aus Registern mit hohem Anteil ungerader Teiltöne. In Frankreich ist dies traditionell das Cromorne 8‘ in Abdeckung durch Bourdon 8′ sowie mit Ergänzung durch 4′ und evtl. 3′. Es kann als Solo oder in Korrelation zu Grand Orgue im Grand Jeu erklingen. Die Mischung aus Cromorne 8′ und Bourdon 8′ ist dann ideal, wenn Bourdon 8′ als Rohrflöte gebaut ist und somit den Terzteilton deutlich einbringt.

Da die klassische italienische Orgel den Terzteilton nicht kennt, ist ihr die Klarinettenfarbe gänzlich fremd.

In Norddeutschland kommen kurzbechrige Zungen wie Dulzian der Klarinettenfarbe am nächsten. Korrelationen hierzu ergeben sich im Labialbereich insbesondere durch Mischungen auf Basis Quintadena 8′ mit Nasat 3′ und durch Mischungen mit Sesquialtera.

Für Sachsen ergeben sich französisch orientierte Klangfarben aufgrund der Verbindung der Familie Silbermann mit Frankreich. Als Gottfried Silbermann (1683 – 1753) nach seiner Lehre bei dessen Bruder Andreas Silbermann in Straßburg in seine Heimatstadt Freiberg zurückkehrt, erbaut er 1714 die dortige Domorgel. Damit erhält die Idee der Klarinettenfarbe sowie die Idee terzbezogener Registrierungen Konjunktur. Basis ist Rohrflöte 8′ im Hauptwerk sowie Rohrflöte 4′ im Oberwerk. Sogar den Nasat 3′ realisiert Silbermann als Rohrflöte. In der Ladegast-Orgel in Merseburg kann man im 19. Jahrhundert das Rohrflöten-Prinzip als generelles Charakteristikum von Ladegasts Gestaltung seiner Weitchorregister erkennen. Bei Silbermann ergeben sich Aspekte der Klarinettenfarbe insbesondere anhand dreier Komponenten und deren Mischungen: Rohrflöte, Tertia, Cornet mit oder ohne Trompete.

In Süd- und Mitteldeutschland breitet sich seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts das Verständnis des Grundlabialstils aus. Unter den Flöten ist in Mitteldeutschland die Rohrflöte beliebt, in Süddeutschland hingegen tritt man sie eher selten an. Insbesondere im Umkreis Bachs erweitert sich insbesondere durch Tobias Heinrich Gottfried Trost (um 1680 – 1759) das Angebot an Flötenstimmen: Zusätzlich zu Gedackt und Rohrflöte kommt die Hohlflöte und es entstehen neuartige überblasende Bauweisen. Basis der Klarinettenfarbe ist einerseits jede Art der Terzmischung und andererseits die Verbindung von Gedackt und Quintatön vs. Gedackt und Gambe bzw. allgemein Verbindungen aus Weitchor und Streicher. Dabei kann gelten: Je mehr Terz- sowie Septimformant, desto mehr Klarinettenfarbe.

An dem verschwindend wenigen Pfeifenmaterial, das heute noch unverfälscht – und unzerstört – aus der Werkstatt von Eberhard Friedrich Walcker in Orgeln erhalten ist, kann man hinsichtlich Principal- und Streicherintonation zuweilen überrascht sein, dort ebenfalls den Terzteilton heraushören zu können, insbesondere, wenn man eher tiefe Töne spielt. Man kann dann meinen, dass bereits in einer Pfeife zum jeweils eher kräftigen Grundton ein Dreiklang in zarter Manier hinzutritt. Ich meine, dass dies keine Harmoniesucht ist – wie die Orgelbewegung sagte – , sondern Klangzauber.

Seit Holzhey in der Abteikirche Neresheim 1797 eine ›europäische Orgel‹ schuf, seit Deutschmann in Wien im Übergang zum 19. Jahrhundert die durchschlagende Zunge erfand und in die Orgel integrierte, seit Walcker die Physharmonica im Orgelklang für nahezu unverzichtbar hielt und seit Debain 1840 das Harmonium erfand, ist die Klarinettenfarbe ein zentrales Charakteristikum des Instruments Orgel. Anhand der durchschlagenden Pedalzunge 32′ und des durchschlagenden Fagott 16′ bei Carl Eduard Schubert in Marienberg / Erzgebirge gelingen in Mendelssohns Sonate A-Dur und deren Choraldurchführung zu Aus tiefer Not schrei ich zu dir besonders ergreifende Registrierungen. Die Fülle der durchschlagenden Zungen an der Walcker-Orgel im Dom zu Riga ist aufgrund der immensen Zahl möglicher Mischungen und des Timbres von Zusammenklang schlicht überwältigend.

Zu Anfang des 20. Jahrhunderts erfindet die Werkstätte Weigle Hochdruckstimmen mit der Bezeichnung ›Seraphon‹ oder ›Stentor‹. 1906 wird dies ebenso auch durch die Gebrüder Link in der ev. Stadtkirche in Giengen / Brenz anhand von ›Stentorgambe‹ und ›Stentorflöte‹ realisiert. Zieht man allein diese beiden Register, so ergibt sich eine perfekte Klarinettenfarbe. Spielt man damit beispielsweise den Beginn des Chorals E-Dur von César Franck, so ergibt sich anhand nur dieser zwei Register ein verblüffendes Pendant zu jener Ideal-Registrierung, wie sie Franck, ausgehend von seiner Cavaillé-Coll-Orgel in Paris, Saint Clotilde, kompositorisch niederlegte.

In der französisch-symphonischen Orgel ist die Klarinettenfarbe anhand der umfassend gebräuchlichen Mischung der Fond-Register des Récit als Mischung bestimmter Labialstimmen 8′ mit Hautbois 8′ und Ausgangspunkt jedes Klanggeschehens gleichsam omnipräsent. Auf dieser Basis behält der Klang der französisch-symphonischen Orgel auch im Crescendo stets die Identität der Klarinettenfarbe, da dabei nach und nach ausschließlich Register dieses Farbspektrums hinzukommen. Da aber Fourniture und Cymbal in Frankreich ausschließlich ohne Terz gebaut werden, muss – nachdem in der klassischen französischen Orgel Plein Jeu und Grand Jeu strikt getrennt sind – jeweils mit dem Ohr geprüft werden, ob sich im französisch-symphonischen Tutti Fourniture und Cymbal integrieren oder nicht.

CB