Klangsäule Süddeutschland

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Vgl. ›Drei Klangsäulen in Europa‹

Aus: Christoph BOSSERT, Die Königin der Konzertsaalorgeln. Zur Einweihung der neuen Klais-Orgel im Konzertsaal der Hochschule für Musik Würzburg am 27. Oktober 2016. PDF-Dokument in NANOPDF.com. URL [08.07.2022]: Ganz offenkundig zogen die süddeutschen Orgelbauer im Vergleich zu den Orgelbauern in anderen Klanglandschaften Europas ihre ganz eigenen Bahnen. Nachdem im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts die Unterscheidlichen als absolute Neuerung aufkamen und sich sogleich im süddeutschen Raum und benachbarten Territorien durchsetzten, ergibt sich daraus ein weiterer wesentlicher Schritt. Diesen nenne ich ›Prinzip der klangfarblichen Mutation‹ oder ›Kreislauf der Klangfarben‹. Anhand eines Vergleiches von vier Orgeln sei aufgezeigt, was ich hierunter verstehe. Die vier Orgeln sind:

Jede dieser Orgeln, die zwischen 1703 und 1906 erbaut wurden, zeigt auf ähnliche Weise einen Kreislauf der Klangfarben. Die Disposition der Wender-Orgel von 1703 in Arnstadt, die fünfzig Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre, unterscheidet sich von einer 1906 disponierten Orgel der Regerzeit keinesfalls grundsätzlich. Genau diesem Typus einer Orgel aber hat sich die Orgelbewegung des 20. Jahrhunderts verweigert. In dem Orgeltyp, den Wender in Thüringen oder Ehrlich im Hohenlohischen realisierte, wird zwischen allen Klangfamilien vermittelt. Ein Beispiel:

Das Register ›Spitzflöte‹ ist aufgrund seiner konischen Bauform unmittelbar mit dem Gemshorn verwandt und dies vermittelt in Richtung größerer Stärke zum Principal, in Richtung des delikaten Klanges zum Salicional, Dolce oder Viola di Gamba. Der Name ›Spitzflöte‹ verweist aber zugleich auf die anderen Verwandten, die Familie der Flöten, und Gedackten. Gern wird die Holzflöte auch ›lieblicher Principal‹ oder oder Portun oder Portunal genannt. Daraus ergibt sich die Verwandtschaft zum Principal und von dort zum Gemshorn als dem Ausgangspunkt dieses Diskurses zum Kreislauf der Klangfarben.

Damit wird das norddeutsche Prinzip blockhafter Gegenüberstellung relativiert und es wird anhand eines klangfarblich durchlässig gewordenen Prinzips, das auf klangfarbliche Übergänge ausgerichtet ist, das Prinzip der klassischen Instrumentation vorbereitet bzw. erprobt und letztlich ermöglicht. (›Advocatus diaboli‹) Allen vorgetragenen Gegensätzlichkeiten zum Trotz möchte ich eine grundsätzliche Gemeinsamkeit zwischen norddeutscher und süddeutscher Klangauffassung nicht verschweigen: Das Ideal des broken consort. In diesem Sinne wird die Mischung einer Zunge 8’ und Labialregister 4’ oder Labialregister 8’ und Zunge 4’ in einer norddeutschen Orgel vergleichbar mit einer Verbindung aus 8’ und 4’ innerhalb der labialen Unterscheidlichen, sofern diese möglichst stark gegensätzlich klingen. Es mutet demnach wie ein weiteres Paradoxon an, aber in der Tat berührt sich hier das Denken in Unterscheidlichen süddeutscher Provinienz mit einem Denken hinsichtlich einer Verbindung von klanglichen Gegensätzen norddeutscher Provinienz. Vergleichend muss man zu dem Schluss kommen, dass das süddeutsche Denken, indem es etwa seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts den historisch wichtigen Schritt hin zur Subtilität und Indirektheit unternimmt, diejenigen Voraussetzungen erbringt, sich vom Consortgedanken weg zu bewegen und sich etwas Neuem zuzuwenden, das den kommenden Epochen wesentlich war (S. 17).

1 Vgl. Christoph Bossert, Der Klangstil des Orgelbauers Johann Adam Ehrlich (1703–1784) im Kontext des spätbarocken Orgelbaus in Süd- und Mitteldeutschland. In: Georg Günther / Walter Salmen unter Mitarbeit von Gabriele Busch-Salmen (Hrsg.): Musik in Baden-Württemberg, Jahrbuch 2003, Bd. 10 (= Jahrbuch der Gesellschaft für Musikgeschichte in Baden-Württemberg), S. 249–262

2 Vgl. Christoph Bossert, Hörbuch Die verlorene Spur – Zur Klanglichkeit der Orgel von E. F. Walcker in Hoffenheim, Organum Classics / SWR 2002 anlässlich des Eberhard Friedrich Walcker gewidmeten Symposiums in Schramberg 2002. Video im Internet: URL [10.07.2022].

CB