Improvisation

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Die Orgelimprovisation ist seit jeher Teil der Orgelkunst. Welche Elemente kennzeichnen die Improvisation bis Anfang des 19. Jahrhunderts?

  • Die Kunst der inventio;

  • die Beherrschung musikalischer Formen (Satztypen wie Praeludium, Fugato oder Fuge, Passacaglia; Rhythmisierung gemäß barocker Tanzformen) sowie

  • die Kenntnis der Satztechnik (insbesondere die der Gegenbewegung), der Klauselbildung, der Tonarten einschließlich – der Kirchentonarten (Modi) und ihrer Charakteristika;

  • die Kenntnis des Hexachord in den Unterscheidungen naturale, molle und durum;

  • die Kenntnis barocker Formeln wie z. B. die Figura corta oder Groppo,

  • die Kenntnis der Redeteile aus Exordium und Narratio (Einleitung), der Propositio (Hauptteil), Confutatio und Confirmatio als Widerstreit musikalischer Formulierungen sowie der Peroratio als Schlussteil;

  • die Kenntnis von Formen der Darstellung eines Cantus firmus (vierstimmiger Satz; Cantus firmus in verschiedenen Lagen; Kolorierung; Satztypen wie Bicinium oder Trio; Variation und Partita).

  • Die stilistische Kenntnis von italienischen, französischen und deutschen Stilismen wird über das Studium der Orgelliteratur erworben, denn die alten Meister verstanden die Komposition häufig als eine Erstellung von Vorbildern, anhand derer Orgelimprovisation geschult werden kann.

  • Die Kenntnis charakteristischer Einzelklangfarben sowie von Ensembleregistrierungen, wie sie beim Literaturspiel gelten, ist gleichermaßen Grundlage für die stilgebundene Improvisation.

  • Im 19. Jahrhundert erweitert sich das Tonartengeschehen insbesondere anhand von Terzverwandtschaft und Enharmonik;

  • die Klangfarbe – insbesondere die Klarinettenfarbe – bildet einen wesentlichen Gegenstand, um in den Bereich der Orgelsonate und der Orgelsymphonie vorzustoßen.

Die zeitgenössische Improvisation

Diese richtet sich derzeit häufig an französischen Vorbildern aus. Jedoch stehen anhand von Umgang mit Wind, der Clusterbildung und damit verbundenen neuen Spieltechniken deutlich mehr Möglichkeiten zur Verfügung, die damit ungenutzt bleiben. Der Schritt in die Hyper-Orgel vermag hier erneut anhand von OSC, Inverskoppel und vielem anderen, in Neuland vorzudringen (siehe die Hyper-Orgel der HfM Würzburg). Meine Empfehlung zur Reflexion des jeweiligen improvisatorischen Geschehens lautet: Punctus contra punctum.

Pädagogik der Improvisation als Basisbildung:

Basis ist eine solide musiktheoretische Durchdringung insbesondere des vierstimmigen Satzes, der Gegenbewegung und der Klauselbildung.

Übungen:

  • Hörübungen anhand des Registers Quintatön: Erregung des Teilton 3 mittels Gedackt; Umspielung des Teilton 3 und Wahrnehmung des Gefälle aus Konsonanz und Dissonanz;

  • Spielübung: Töne im Raum anhand Quintatön sowie Bezüge zu den Teiltönen 3 und 5 mittels Gedackt.

  • Hörübungen anhand terzhaltiger Registrierungen wie Sesquialtera, Cornet, Terzmixtur; Erregung der Teiltöne 3 und 5 mittels Gedackt o. ä.; Umspielung dieser Teiltöne;

  • Confutatio: Die Tertia minor.

  • Spielübung: Töne im Raum anhand Quintatön, Gedackt und Sesquialtera sowie Bezüge zu den Teiltönen 3 und 5 sowie zur Tertia minor.

Übungen mittels Hexachord:

  • Melodiebildung im hexachordalen Raum; Besonderheit des Schrittes Mi-Fa bzw. Fa-Mi;

  • Entdeckung des Subsemitoniums

Der Hexachord und seine leitereigenen Dreiklänge als Trias Harmonica perfecta und imperfecta; die siebte Stufe der modernen Skala kennt keine leitereigene Trias Harmonica perfecta oder imperfecta; Lösung: Siebte Stufe in Kirchentonarten.

  • Harmoniefolgen im Radius des Hexachord samt Klauselbildung;

  • Bezugsebenen des Hexachordum naturale, molle und durum;

  • Übungen im Verständnis von Fa Mi et Mi Fa im genus maior vs. genus minor.

  • Verortungen von Tönen im Quintraum samt der Verortung von Fa Mi et Mi Fa im genus maior vs. genus minor;

  • Einstimmige melodische Verläufe, ausgehendend von Verortungen im Quintraum;

  • Einbeziehung von spannungsvollen Intervallen sowie charakteristischen Figuren (Seufzer; Figura corta; Groppo; Tirata; Dreiklangbrechung vs. Skalenverlauf; weite Sprünge vs. Halbtonschritte; Diatonik vs. Chromatik etc.);

  • Entwicklung charakteristischer Viertonmotive und deren Beantwortung im Octavraum vs. Beantwortung im Quintraum.

Schulung des Empfindens von Thesis und Arsis (schwer und leicht; aktiv und nicht aktiv) und dessen Abbildung durch Anschlag;

  • Schulung des Gebrauchs unterschiedlicher Taktarten;

  • Schulung des Gebrauchs einfacher Bassgerüste;

  • Schulung des Zusammenhangs aus Bassgerüst – Harmoniefolge (Generalbass) – Melodik;

  • Schulung von viertaktigen sowie achttaktigen Phrasen;

  • Schulung von vier viertaktigen Phrasen, bezogen auf vier Sektionen:

  • In I // I nach V // V nach VI // IV nach V nach I;

  • Schulung von vier achttaktigen Phrasen, bezogen auf vier Sektionen:

  • In I // I nach V // V nach VI // IV nach V nach I (Vorbild: J. S. Bachs Goldberg-Variationen)

Schulung des Klangempfindens im Tonraum;

  • Experimentelle Erprobung sehr tiefer vs. sehr hoher Klänge;

  • Schulung des Umgangs mit weiter Lage als Satztechnik;

  • Schulung der Choralharmonisierung (Erkennen der Klauseln; Grundakkord – Sextakkord; Oktav-, Quint-, Terzlage; Grundton-, Quint-, Terzverdoppelung und deren sinnvoller Gebrauch; Variantenreichtum)

Praeludierende Formen;

  • praeludierende Formen und Fugato-Elemente;

  • Entwicklung rhythmischer Prägnanz;

  • Entwicklung sprechender, steigernder oder kontrastierender Elemente als Wege zu dramatisierenden Wirkungen;

  • Schulung der Unterscheidung von Taktgebundenheit vs. Stylus phantasticus;

  • Rückbindung an stilistische Formen des Barock (G. Frescobaldi, G. Muffat, C. F. Fischer, J. S. Bach);

  • Rückbindung an Formen der Romantik

Ideengeber (Inventio):

  • Cantus firmi als Ideengeber.

  • Registrierungen als Ideengeber;

  • Klangverdoppelung im Spiel;

  • Formale Kategorien als Ideengeber;

  • das ›innere Bild‹, die ›seelische Stimmung‹, die ›semantische Aufladung‹ als Ideengeber.

Vergegenwärtigung der bislang erarbeiteten Techniken;
Verknüpfungen innerhalb innerhalb dieser Techniken.

Moderne Improvisation:

  • Umgang mit Wind;

  • Clusterbildung und neue Spieltechniken;

  • Reflexion von musikalischer Strukturbildung und des Hervorbringens von ›Zuständen‹;

  • Bewußtheit darüber, dass es zu jedem existenten Zustand ein Mehr oder Weniger (Skalierung) sowie ein maximal Anderes (dialektisches Gegenüber) geben kann; daher: Punctus contra punctum.

  • Wenn die Orgel dafür die Beispielebene ist, dann bestehen bereits im Instrumentum (Werkzeug) selbst die Bedingungen von Komplexität und Skalierung

Beispiele für denkbare Zustände: Statik; Dynamik; Klang – Stille; Registrierung als Ideengeber; ›Gestrüpp‹; ›Staub‹; ›Schatten‹; ›Schattierung‹; Weichheit vs. Härte; Perkussion; Rauschen; Zischen; zielloses Schweifen; Kontrastbildung; das Numinose; Aufstieg; Dekomposition.
Welche weiteren ›Zustände‹ sind denkbar?
Anhand welcher konkreten Mittel können sie verwirklicht werden?
Spätestens jetzt ereignet sich der Übertritt in das Philosophieren des Musikalischen.

CB