Gravität

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Von Johann Sebastian Bach sind aus seiner Zeit in Mühlhausen (1707 bis 1708) zehn Anweisungen zum Umbau der dortigen Orgel überliefert. Darin wird Bachs Wertschätzung des Aspektes Gravität in einer Orgel ersichtlich (siehe insb. Pkt. 4 und 5):

Disposition der neuen reparatur des Orgelwercks ad D: Blasii.
[…]
2 Die 4 alten bälge so da vorhanden, müßen mit stärkerem Winde zu den neuen 32 Fuß Untersaze und denen übrigen Bass Stimmen abtiret werden.
3 Die alten Bass Windladen, müßen alle ausgenommen, und von neuen mit einer solchen Windführung versehen werden, damit mann eine einzige Stimme alleine, und denn alle Stimmen zugleich ohne Veränderung des Windes könne gebrauchen, welches vormahlen noch nie auff diese Arth hat geschehen können, und doch höchstnöthig ist.
4 Folget der 32 Fuß Sub Bass oder so genandter Untersatz von Holz, welcher dem ganzen Wercke die beste gravität giebet. Dieser muß nun eine eigene Windlade haben.
5 Muß der Posaunen Bass mit neuen und grösern corporibus versehen, und die Mundstücke viel anders eingerichtet werden, damit solcher eine viel beßere gravität von sich geben kan.
[...]
Was anlanget das Obermanual, so wird in selbiges anstatt der Trompette (so da heraus genommen wirdt) ein
7 Fagotto 16 Fußthon eingebracht, welcher zu allerhandt neuen inventionibus dienlich, und in die Music sehr delicat klinget. […]

Quelle, zuletzt abgerufen: 11.08.2023

In einer Diskussion mit Martin Rost (Marienkirche Stralsund) zur Stellwagenorgel von 1659 stellte dieser mir folgende These vor: Es falle bei Stellwagens Art der Zungenintonation auf, dass dieser der Natur des Zungenklanges, nämlich dem natürlichen Anwachsen der Klangintensität zur Tiefe hin, offenbar sehr gezielt entgegen gewirkt habe, um eine zu laute Basslage zugunsten der Polyphonie entschieden zu verhindern. Da Stellwagen aus Mitteldeutschland stamme, sei J. S. Bach mit einem Orgeltypus wie dem Stellwagens sicherlich vertraut gewesen. Wenn Bach nun seinerseits die Gravität einer neuen Orgel besonders lobend hervorhebe, dann ließe dies darauf schließen, dass sich hier ein Stilwandel hin zu mehr Bassvolumen vollzogen habe und dass Bach, indem er die Gravität einer neuen Orgel würdigte, sich darüber bewusst gewesen sei, dass es sich um eine Neuerung handele und dass er diese explizit gut hieß.

Folgende Aspekte geben einen zusammenfassenden Überblick über Bachs Verständnis von Gravität:

1 Mühlhausen (Bach wirkte dort an St. Divi Blasii 1707 bis 1708):
Im Hauptwerk fordert Bach anstatt der Trompette [8′] ein Fagotto 16′ […] zu allerhand inventinibus;
im Pedal fordert er 32 Fuß Sub Bass sowie neue und größere Corporibus für den Posaunen Bass [siehe oben].

2 Weimar:
An seinem Amtssitz als Hoforganist (1708 bis 1717) sorgt Bach u. a. für einen neuen Untersatz 32′ (siehe Umbau durch Heinrich Nicolaus Trebs 1712).

3 Disposition (vermutlich) für die 1732 durch Heinrich Gottlieb Herbst erbaute Orgel der Schlosskirche in Lahm im Itzgrund:
Die dortige zweimanualige Orgel enthält im Pedal Quint Grosso 12′ sowie Posaune 32′.

4 Naumburg, St. Wenzel (1746):
Bach veranlasste oder goutierte den Bau von Posaune 32′ im Pedal sowie im Hauptwerk den Bau von Bombard 16′, Principal 16′ und Quintatön 16′.

Die Wertschätzung der Posaune 32′ in Mitteldeutschland und insbesondere in Thüringen zeigt sich beispielsweise auch an der Orgel zweimanualigen Orgel in Gauerstadt, erbaut um 1800 von Johann Caspar Haueis und Johann Georg Hofmann. Zugunsten der Posaune 32′ verzichtete man auf Posaune 16. Damit nahm man die Octav-Lücke zur Pedal-Trompete 8′ in Kauf.

Siehe dazu:
Gravitas als Urphänomen
Essay von Christoph Bossert 2023 / in Vorbereitung

CB