Ferne und Nähe

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Die Wehe-Rufe des Orpheo aus der Unterwelt, Echo-Effekte in der Barockmusik, das Signalhorn, aus der Ferne näher kommend und sich entfernend, Gustav Mahlers ferne Klangidyllen, Franz Schrekers Werk ›der ferne Klang‹, das Fernwerk von Orgeln des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, Anton von Weberns äußerstes Pianissimo oder die musikalische Bezeichnung ›lontano‹ sind Phänomene der musikalischen Suggestion von Ferne. Was ist dann Nähe?

Die Orgel sucht längst nicht erst, seit dem Alois Mooser 1834 in der Kathedrale zu Fribourg / Schweiz das erste Fernwerk der Orgelgeschichte erbaute, Ferne und Nähe abzubilden, sondern vermutlich darf das Brustwerk der norddeutschen Orgel und die dort zumeist vorhandene Möglichkeit, dessen Türen öffnen sowie schließen zu können, als ein frühes Zeugnis für den Topos des Echo und somit der Ferne gelten. Entsprechend trifft man etwa seit der Zeit von Sweelinck (1562 – 1621) in der Orgelmusik auf den Topos der ›Echofantasie‹.

In der Alltagswelt ist Menschen weit vor dem 19. Jahrhundert Ferne und Nähe im Klang des Signalhorns erfahrbar, sei es, dass fernab eines Dorfes zur Jagd geblasen wird, sei es, dass sich ein Potentat mit seinem Gefolge schon von weitem ankündigt, oder sei es das Posthorn. Im Capriccio sopra lontananza del fratello dilettissimo – über die Abreise seines geliebten Bruders – des frühen J. S. Bach gibt das vorletzte Stück Aria di Postiglione mit seinen sich in der Ferne verlierenden Signalen das Bild des Übergangs von Nähe in Ferne getreu wieder. Die anschließende Fuga all’ imitatione di Posta macht das Signalblasen gar zum Fugenthema, wobei das Wort ›Fuga‹ wörtlich ›Flucht‹ bedeutet. In diesen Signalen steigt aber – im Sinne von Bachs Komposition von Programmmusik – die Ahnung auf, wohin die Reise gehen wird, nachdem sich sein Bruder Johann Jakob (geb. 1682), der Oboe spielte, sich zuvor der Armee des schwedischen Königs Karl XII angeschlossen hatte: Auf das Schlachtfeld. Somit wird doppelter Boden hörbar und die Fuga all‘ imitatione di Posta geht im Geiste über in eine Battaglia.

Hierzu korreliert dann das im Barock sehr gebräuchliche Stilmittel des Echo als ›Schatten‹. Philosophisch überhöht ist damit die Philosophie Platons berührt, in der die Erscheinungen es realen Lebens als Schatten der reinen Welt der Ideen betrachtet wird. Auf das dort verortete barocke Verständnis der ›Vanitas‹ (Andreas Gryphius) trifft man so auch in einer Kantate von Johann Bach (1604 – 1673) anhand des Topos ›Unser Leben ist ein Schatten‹. Offenbar wird das Stilmittel des Echo im Barock bzw. von Bach auch als ein Moment des Erschreckens gebraucht, wenn es in Kantate IV Fallt mit Danken, fallt mit Loben des Weihnachtsoratoriums BWV 248IV heißt:

Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen
Auch den allerkleinsten Samen
Jenes strengen Schreckens ein?

Eine Hermeneutik erschließt sich hierzu anhand der letzten Zeilen des vorangehenden Duetto:

Was jagte mir zuletzt der Tod für Grauen ein?
Mein Jesus, wenn ich sterbe,
So weiß ich, dass ich nicht verderbe;
Dein Name steht in mir geschrieben,
Der hat des Todes Furcht vertrieben.

Das Spielen der Orgel in Form von Improvisation und Komposition im kirchlichen Raum zielt ab auf das Symbolum. Ferne und Nähe spiegelt dann das Momentum des ›Hier und Dort‹; das ›Dort‹ ist dann Entrücktheit, Ewigkeit, die himmlische Welt.

Die Verknüpfung von ›Hier und Dort‹ ist Gegenstand aller ›religio‹, aller Religion. Krippe, Kreuz und Grab Jesu sind im ‚Hier‘ verortet und verweisen doch unmittelbar auf das ›Dort‹. Der Glaube an die Wiederkunft Jesu am Jüngsten Tage spiegelt sich im biblischen Gleichnis der fünf klugen und der fünf törichten Jungfrauen und der Frage, ob sie auch auf Jesu Wiederkunft und somit auf die Hochzeit von Braut und Bräutigam gut vorbereitet sind.

Im Lied ›Wachet auf! ruft uns die Stimme‹ ist dieses Gleichnis literarisch nachgestaltet. Im gleichnamigen Choralvorspiel, mit dem Bach seine ›Sechs Choräle verschiedener Art‹ eröffnet, begegnet man nach Abschluss des ersten Auftritts des Ritornello dessen Echo. In Regers gleichnamiger Choralphantasie op. 52, 2 begegnet man in Strophe 1 und dem Stollen von Strophe 2 zunächst im pppp dem Wechsel von sehr tiefer und sehr hoher Lage und sodann einem kontinuierlichen Crescendo-Verlauf bis zum Vollen Werk. Wenn der akustisch wahrgenommene Kirchenraum dann sukzessiv mit Klang erfüllt wird und die Orgel dabei idealer Weise ihr breit gefächertes Klangband von der Westempore aus zunächst sehr zart, dann immer stärker werdend in den Raum entfaltet, erlebt man, wie Ferne sich in Nähe wandelt. Im Lied ›Wachet auf! ruft uns die Stimme‹ stehen dafür Worte wie: ›Wohlauf, der Bräut’gam kommt!‹ Diese Worte künden vom Eschaton.

Da man in der deutsch-romantischen Orgel vom Echowerk des Manual III über das Positivwerk auf Manual II zum Hauptwerk gelangt und zum Forte-Pedal gelangt, wohnt diesem Orgeltypus der Topos Ferne – Nähe und somit der Topos des Eschaton vom Grundsatz her inne. Wenn Max Reger sagen konnte: »Wissen Sie denn nicht, wie sich durch alle meine Sachen der Choral zieht: Wenn ich einmal soll scheiden«, dann liegt das Tröstliche dieser Liedstrophe in der Aussage ›so tritt du dann herfür‹. Und so kann man sich in mitten des Todesdunkels im Licht des Auferstandenen sehen.

Wenn, wie oben angedeutet, die Idee einer solchen Orgelanlage aus Brustwerk = Echo = Ferne im Übergang zu mehr klanglicher Direktheit im Hauptwerk sowie maximaler Präsenz im Rückpositiv in der norddeutschen Orgel klar ausgeprägt ist, dann ist das Prinzip der Wechselwirkung aus Pars-Major und Pars-Minor der mitteldeutschen und der süddeutschen Orgel der nächste Schritt einer Vermittlung von Ferne und Nähe. In der Gabler-Orgel zu Ochsenhausen (1739) wandert der Klang der viermanualigen Orgel von der Indirektheit des Man. IV zur modifizierbaren Präsenz des Rückpositiv (III) über die Klangverbreiterung anhand des Hauptwerk, Pars Minor (II) zum Maximum an Volumen aus Hauptwerk Pars Major und Pedal. Dies ist ›Ferne – Nähe‹ in höchster Vollendung.

Das Fernwerk von Alois Mooser in der Kathedrale von Fribourg / Schweiz (1834) erschafft daraus eine nächste Konsequenz. Im vergleichbaren Zeitraum baut Eberhard Friedrich Walcker anhand von Registern wie Holzharmonika und Physharmonika sowie Salicional 16′, Dolce 8′ und Traversflöte 4′ die Pianissimo-Ebene selbst in kleineren Orgeln wie in Hoffenheim (1845) konsequent aus. Derartige Attitüden kennt die französische Orgel noch nicht. Doch über Orgelbauer wie Callinet gelangen derartige Ideen auch nach Paris, St. Sulpice.

Angesichts dessen erscheint die große dreimalige Orgel der deutschen Spätromantik als Erfüllung und Klimax all dessen. Das Fernwerk soll dann ins äußerste Pianissimo führen und den Hörer gleichsam entrücken. Die 1928 in St. Gallen – Neudorf durch Orgelbau Willisau geschaffene Großorgel ist in dieser Entwicklungsgeschichte anhand eines Fernwerks, das mit zwei Manualen und Pedal ausgestattet ist, dann der letzte denkbare Schritt innerhalb der spätromantischen Ästhetik. In dialektischer Umkehrung findet man jedoch an dieser Orgel zugleich klare Zeugnisse der Reformbewegungen, wie sie von Albert Schweizer oder von Willibald Gurlitt ausgingen. Doch der Name Gurlitt steht dann, wie die vielen anderen Namen derer, die 1933 in einem Manifest zur Gründung des ›Reichsverbandes evangelischer Kirchenmusik‹ die »zersetzenden Kräfte des Individualismus und Liberalismus« anprangerten, dafür, dass man die deutsche Orgel-Romantik als eine Erscheinung eklatanten Kulturverfalls betrachtete. Die Konsequenz dessen war die Zerstörung oder klangliche Entstellung zahlloser Zeugnisse der deutschen Orgelkultur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Dass aber mit diesem Gewaltakt in Wahrheit eine über Jahrhunderte gewachsene Geisteskultur von Kirche und Kunst in Gestalt von Komposition, Interpretation, Improvisation und Orgelbau ihrer künstlerischen Konsequenz beraubt wurde, hat bedauerlicherweise bis heute noch immer keine angemessenen Antworten gefunden.

CB