Europäische Orgel

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These (CB): Stilistische und klangliche Phänomene der Orgel lassen sich gemäß ihrer historischen Überlieferung in drei Klangsäulen einteilen:

I Principal-Orgel in Italien als Tradierung der Blockwerk-Orgel des Spätmittelalters sowie die Principal-Schwebung

II Die Aliquoten und Zungen betonende Orgel in Westeuropa: Iberische Halbinsel, Frankreich, Belgien, Niederlande, Norddeutschland

III Die Orgel des Grundlabialstils sowie das Phänomen der Terzmixtur in weiten Teilen des übrigen Europa als Gebiete der ehemaligen k. und k. Monarchie sowie angrenzenden Ländern, darunter insbesondere Mittel- und Süddeutschland

In diversen Orgelstilen des Spätbarock (Silbermann, Hildebrandt, Riepp, Holzhey u.a.) kommt es zu je unterschiedlichen Arten der Stilsynthese. An Orgeln wie Naumburg, St. Wenzel (Hildebrandt 1746) oder Neresheim (Holzhey 1797) findet man Elemente aller drei genannten Klangsäulen, sodass man hier von einer europäischen Orgel sprechen kann.

A Ein Inbegriff der ›Europäischen Orgel‹ ist lt. Bossert die große Orgel der Abteikirche Neresheim, erbaut 1797 von Johann Nepomuk Holzhey. Über dessen Lehrer Joseph Riepp erlangt Holzhey Kenntnis des klassischen französischen Orgelbaus. Da Holzhey in Schwaben wirkt, ist er andererseits im Grundlabialstil beheimatet und er kennt aus etlichen Orgeln seiner Heimat die Schwebungsregister, die auf italienische Einflüsse verweisen. In der Abteilkirche Neresheim wie auch an anderen seiner Orgeln verwirklicht Holzhey eine Synthese der drei Klangsäulen in Europa, wie sie sich im 18ten Jahrhundert herausgebildet haben.

B Die Ähnlichkeit des Dispositionstypus von Holzhey und Walcker ist plausibel nachvollziehbar,ebenso wie Walckers Kenntnis französischer Klangidiome.

Eberhard Friedrich Walcker besuchte die Orgel in Neresheim1; er hat sie wohl sehr geschätzt. Jedoch führte er in seinen handschriftlichen Notizen Kritikpunkte an: die zu schmalen Mensuren und die Windversorgung.

[Einträge:]
linke Seite:
Neresheim
Schloßorgel
Nach duodecimalmaß
I. M.
[…] 5. Quart eigentlich Octav 2′ ist sehr enger [sic!]
Mensur
rechte Seite:
10. Trompete 8. sind die Zungen zu dünn […]
12 Cläron 4. wie Nr. 10 eng

Die Windversorgung muss damals ziemlich instabil gewesen sein, weshalb auch ein Holzhey-Schüler später hier Reparaturen durchgeführt hatte.

Die immense Größe und Weite der Abteikirche zu Neresheim ist eine orgelbauliche Herausforderung an die Traktur – kaum eine Orgel ist so konzipiert, dass sie diese weiten Windkanäle ausfüllen kann.

C Die Terzmixtur ist neben dem Grundlabialstil ein weiteres Kennzeichen der ›dritten Europäischen Klangsäule‹. Man kann die Terzmixtur als die prinzipalische Alternative zu Trompette und Cornet des französischen Grand Jeu sehen. Zugleich begegnet man in der Art der Principalpyramide sowie der Schwebung innerhalb der Gebiete der ehemaligen K.u.K-Monarchie sowie angrenzenden Ländern, darunter insbesondere Mittel- und Süddeutschland, italienischen Einflüssen. Insofern sind diese Gebiete zur Synthese der ›drei Klangsäulen in Europa‹ prädestiniert.

D Gottfried Silbermann kennt keine Terzmixtur im eigentlichen Sinne, sondern die freie prinzipalische Terz sowie den französischen Cornet. Die Viola di Gamba baut Silbermann eigentlich – wenn überhaupt – als Spitzgambe = Gemshorn, sodass die Unterscheidlichen bei ihm in der Regel aus den drei Registern Quintatön, Gedackt und Principal gebildet werden. Der Tremulant suggeriert das Schwebungsregister, sodass auch sein Stil zu einer sehr spezifischen Synthese der ›drei Klangsäulen in Europa‹ vorstößt.

E In der Orgel von Zacharias Hildebrandt in St. Wenzel zu Naumburg 1746 findet man im Rückpositiv das ›Grundstimmenplenum‹ der Klangsäule III, im Hauptwerk den Cornet der Klangsäule II sowie im Oberwerk den zerlegten Principalaufbau bis 1’ der Klangsäule I. Auch das Register ›Unda maris‹ belegt den italienischen Einfluss gemäß Klangsäule I.

1 E. F. Walcker: Kalender 1856 #B 123. In; mit freundlicher Genehmigung durch das Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg vom 03.04.2023.

CB