Diminutionspraxis

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Der Begriff Diminution geht auf das spätlateinische Verb diminuere zurück: zerspalten, zersplittern, verringern, verkleinern. Zum einen bezieht sich das Diminuieren auf Notenwerte. In der Mensuralmusik wurde eine Diminution nur über Veränderung des Tempos ausgedrückt, in dem das Mensurzeichen einen senkrechten Strich erhielt oder die Zahl 2 oder 3 beim Taktzeichen hinzugefügt wurden – oder sich auch, wie bei Walther angegeben, auf Oktavangaben bezieht. Zum anderen ist es eine besondere Form der Variationstechnik und ein wichtiges Element in der Improvisation.

Johann Walther schreibt in seinem Musikalischen Lexicon über den Begriff Folgendes (S. 209):

Die Blütezeit der Diminutionspraxis als Variations- bzw. Kompositionstechnik, die die Musiker ausübten, nahm ihren Anfang zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Italien und blieb bis etwa ins 18. Jahrhundert in ganz Europa in Mode. Die Kunst bestand darin, Melodien mit lange Noten oder cantus firmi – bei Beibehaltung der Hauptnoten – mit allerlei Verzierungen (Läufen, Durchgängen, Trillern in verschiedenen Ausführungen, Akzenten, Tremoli etc.) zu versehen oder in kleinere Notengruppen aufzulösen und melodisch zu umspielen. (siehe auch: England: Division (on a Ground); Spanien: Glosadas, Differencias; Frankreich: Double; Italien: Passagio).

In der Orgelmusik ist hier zuvorderst der blinde Nürnberger Organist Conrad Paumann (1410 – 1473) mit seinem Werk Fundamentum organisandi (Lochamer Liederbuch) zu nennen, in welchem er zeigt, wie man gegebene Melodien verziert, sie ausschmückt (ornamentiert, koloriert), oder wie man sie mit Klauseln und Kadenzen gliedert und Weiteres. Paumann galt in der zweiten Hälfte des 15. Jh als der Hauptmeister der Orgelkunst.

Siehe: Lochamer Liederbuch. In: IMSLP, URL (Abruf: 11.12.2023).

Zeitgenössische Traktate zur Diminutionspraxis existieren vielfältig. Ein Überblick und eine Auswahl findet sich im Internet: Liste historisch-musiktheoretischer Literatur. URL (Abruf: 11.12.2023 siehe auch auf der Homepage DVVLIO unter »Quellen«):

Italien:

Spanien:

England:

Niederlande:

Zugleich wird die für die Diminutionspraxis wichtige Verzierungslehre in den verschiedensten Traktaten der Zeit besprochen, wie z. B. auch bei Caccini, Cavalieri, Diruta, Herbst, Praetorius, Samber u.v.m.

Auch kritische Stimmen beschäftigen sich mit der Diminutionspraxis. So schreibt Johann Georg Sulzer in seiner Schrift Allgemeine Theorie der Schönen Künste (Band 2. Leipzig 1774) unter dem Stichwort Melodie (S. 758/759), Folgendes:

[…] Zulezt möchte es, besonders in unsern Tagen, da die Melodien gar zu sehr mit unnüzen Tönen überladen werden, nicht undienlich seyn, auf Einfalt des Gesanges zu dringen. […] Mancher scheinet in der Meinung zu stehen, daß er um einen so viel geschiktern Tonsezer werde gehalten werden, je mehr Töne er in einen Takt hereinzwingt. Es wär übertrieben, wenn man darauf dringen wollte, daß jede Sylbe des Textes, oder jeder Takttheil nur einen Ton haben sollte. Aber dieses ist gewiß nicht übertrieben, wenn man behauptet, daß ein Ton auf jeder Sylbe und auf jedem Takttheil, sich besonders auszeichnen müsse; daß die ganze Kraft der Melodie allemal auf diesen Haupttönen beruhe, und daß alle, durch die sogenannte Diminution, oder Brechung dieses Tones, hineingekommene Töne, als bloße Ausziehrungen dieses Haupttones anzusehen sind. Da nun alles, was mit Zierrathen überladen ist, den guten Geschmak beleidiget, so ist auch von der mit Nebentönen überladenen Melodie dasselbe Urtheil zu fällen.

Allgemeine Quellennachweise:

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