Crescendo-Gedanke an der Orgel

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Das Zeitalter des Barock kennt bereits mit dem Aufkommen der Oper im frühen 17. Jahrhundert das Echo-Prinzip und den ›fernen‹ Klang, wie aus Monteverdis Oper Orfeo klar hervorgeht. Die Türen des Brustwerks können geöffnet oder verschlossen werden. Ähnlich wirken Schallvorrichtungen bei Regalen. In spanischen und englischen Orgeln kennt man sogar Schwellvorrichtungen. Ebenso z. B. an der Wiegleb-Orgel in Ansbach, St. Gumbertus.

Nicht auf räumlicher Basis, sondern auf Basis von Registern unterschiedlicher Klangfarbe in gleicher Lage ergibt sich – wohl mit dem Aufkommen derartiger Instrumente wie Hermannstadt, Vest 1672 oder Prag, Mundt 1673 folgender sehr nachhaltige neue Weg:

Die Disposition der sog. Unterscheidlichen und deren Gebrauch macht sich fest an der jeweiligen Klangfarbe, die sich anhand der Prominenz von Teiltönen, an Stärkegraden sowie der Differenzierung von eher weich (Gedackt) oder etwas geschärft (Quintatön, Principal) oder eher scharf (Viola di Gamba) definiert. Unterscheidliche Register im 4′-Bereich (Kleingedackt; Spitzflöte; Quintatön) können in diesen Kontexten solistisch oder auch schattierend bzw. ergänzend zu Mischungen im 8‘-Bereich eingesetzt werden. Die Quint 2 2/3′ ist bereits im Quintatön 8′ vernehmbar, die Quint 1 1/3′ im Quintatön 4′; die Viola di Gamba ist in der Regel das hellste Register, wobei Helligkeit aus der Präsenz höherer Teiltöne resultiert. Das Denken in ›unterscheidlichen‹ Registern befindet sich somit in enger Nachbarschaft zu einem Denken in Skalierungen.

Es wäre nun sehr verwunderlich, wenn nicht im Zuge des Empfindsamen Stils oder des Sturm und Drang gemäß der bereits gedachten Skalierungen mit den Extremen weich vs. scharf, dunkel vs. hell, zurückhaltend vs. dominant dann eine Beobachtung der dynamischen Skalierung ausgeblieben wäre – warum? Das Kennzeichen der dynamischen Skalierung ist ja nur noch eine nächste Konsequenz aus Beobachtungen wie weich vs. scharf, dunkel vs. hell, zurückhaltend vs. dominant.

Da dies an einer mit Unterscheidlichen ausgestatteten Orgel in aller Ruhe beobachtet, studiert und insbesondere improvisatorisch umgesetzt werden kann, sei die These gewagt, dass Organisten wie Abbé Vogler hier anhand der Orgel voranschritten und Phänomene wie die sog. ›Mannheimer Rakete‹ damit Hand in Hand gehen.

Zwei Orgeln, nämlich die Gabler-Orgel in Kloster Ochsenhausen (1736 / 1751) und die Seuffert-Orgel in Kloster Banz (1744) sind Beispiele dafür, auf welch leichter und fast schon selbstverständliche Weise das Crescendo aus diesen Orgeln hervorgeht (s. Glossar: Gabler und die Crescendo-Orgel).

Nimmt man dann etliche Jahrzehnte später Mendelssohns Orgelschaffen zum Maßstab, so enthalten Satz 3 der Sonate 1 sowie Satz 1 der Sonate 3 Crescendo-Anweisungen, wie sie in den übrigen Sonaten oder in den Praeludien und Fugen nicht enthalten sind. Mendelssohn stellt hier – wie anzunehmen ist: sehr bewusst – die althergebrachte Idee der Terassendynamik als das klassische Modell der modernen Idee des Crescendo diskursiv gegenüber. Eine Verbindung von terassendynamischem und decrescendierendem Denken kann man in Satz 1 und Satz 2 der ersten Orgelsonate erkennen: Nachdem zunächst das Kontrastprinzip mit häufigem Wechsel ff – mp ausgeschöpft wird, kommt es ab dem Ende von Satz 1 zu folgender fünffachen Staffelung:

1 ff Hörpsychologisch steht das ff der Orgel im Raum

2 mp Zu ff kontrastierende Choralauftritte in Satz 1 bis zum vorletzten Auftritt

3 p letzter Choralauftritt in Satz 1, gefolgt von ff-Abschluss des Satzes

4 pp Beginn Satz 2 in Man. I

5 pp antwortendes pp in Man. II

In Satz 3 wird das Prinzip ff – p sowie Crescendo und Decrescendo im p-Bereich weiter ausgelotet.

Bei Robert Schumann werden dann in den Kanons op. 56 immer subtilere Registrierungen zur Voraussetzung, um den satztechnischen Erfordernissen gerecht zu werden. Die Skizzen op. 58 setzen dann sehr klar die Anschlagsdynamik voraus. Die B-A-C-H-Fugen op. 60 zeigen dann, ausgehend von Mendelssohns Klangideen, dynamische Umgangsweisen einerseits (Fugen 1, 2, 4, 6), aber auch das Beibehalten einer Registrierung im Satzganzen (Fugen 3, 5).

Mit Franz Liszt und Julius Reubke wird dann der dynamische Umgang mit der Orgel Standard.

CB