Zu den Monologen Opus 63 von Max Reger

19.05.2024

Keine leichte Kost!

In meinen Darlegungen zu Regers Opus 59 habe ich herausgearbeitet, dass dieses Werk, das zuweilen ›Orgelmesse‹ genannt wird, bei Reger hinsichtlich seiner Orgelmusik einen wesentlichen neuen Schaffensaspekt einleitet, nämlich die zyklische Konzeption. Im Falle von op. 59 kann man sehr klar zum einen die Zweiteiligkeit, zum andern eine Symmetriekonzeption aller zwölf Stücke erkennen.

Im Falle des ebenfalls zwölf Stücke umfassenden Zyklus der Monologe op. 63 liegt eine Dreiteiligkeit zu je vier Stücken vor. Verlegerisch aufbereitet wurden daraus drei ›Hefte‹ zu je vier Sätzen. Ähnlich einer viersätzigen Sonate beispielsweise wie der vorausgehenden Zweiten Sonate d-Moll op. 60 ist in jedem solchen Heft ein langsamer Satz enthalten, den Reger nun aber nicht, wie es in der Sonate üblich wäre, an die zweite Stelle, sondern immer an die dritte Stelle setzt. So ergibt sich ein sehr klarer dreimal sehr ähnlicher Ablauf: Ein Paar macht den Anfang, gefolgt von einem langsamen und einem raschen Stück.

Dass Reger tatsächlich einmal einen schnellen Satz leise enden lässt, ist bereits überraschend. Noch überraschender ist, dass er seinen gesamten zwölfteiligen Zyklus somit im Pianissimo enden lässt. Dies wirft ein Licht auf die Pointierung von Schlussbildungen in diesem Opus 63.

Gewiss ist Regers Musik des op. 63 keine leichte Kost! Drei der jeweils vier Sätze sind bewegt bis sehr bewegt gehalten und vielleicht teilweise auch provokativ zu verstehen. Beispielsweise beginnt Nr. 4 Capriccio a-Moll mit a′-c′′-e′′-gis′′, ohne dass sich Ton gis′′ zu Ton a′′ hin auflösen würde. Ein anderes Beispiel ist Nr. 7 Ave Maria A-Dur. Kaum wurde man der Tonart A-Dur und darin der Durterz cis gewahr, erklingt zu Beginn von Takt 2 bereits C-Dur, gefolgt von einer Modulation in Richtung f-Moll, sodass sich Ton cis des Taktes 1 einen Takt später bereits enharmonisch in Ton des verwechselt. Auf Stück 7 Ave Maria folgt Stück 8 Fantasia C-Dur, wobei diese Tonart erst ganz zum Schluss überhaupt erkennbar wird, woraus sich eine völlig überraschende Schlusspointierung ergibt. Dabei liegt folgendes vor: Die vermeintliche Fantasie C-Dur beginnt in a-Moll und von C-Dur als Tonart ist innerhalb der 54 Takte dieses Stückes bis Takt 45 nicht im Geringsten etwas zu bemerken. In Takt 45 liegt für drei Halbe ein Orgelpunkt G vor, worauf erneut a-Moll folgt. Takt 51 wirft dann völlig überraschend den Anker erneut bei Orgelpunkt G, gefolgt von Orgelpunkt C in den beiden Schlusstakten.

Das Ergebnis ist eine Fantasie, deren Beginn gleichsam ›mit der Tür ins Haus fällt‹, von a-Moll her zu verstehen ist und völlig unerwartet in C-Dur schließt. Mit dieser Fantasie und ihrem völlig unvermittelt erscheinenden Schluss endet dann Heft II von Regers op. 63 überraschend in C-Dur. Auf op. 63 als Ganzes gesehen kehrt jedoch etwas in einer C-Dur-Schlussgeste im vollen Werk nahezu wörtlich wieder, nach der Schluss von Nr. 2 Fuge C-Dur. Dort ist die Konzeption sehr klar erfassbar: Nr. 1 und 2 sind Praeludium c-Moll und Fuge C-Dur.

Jetzt weiß man, wo Regers ›Monologe‹ op. 63 wohl anknüpfen: 1896 schrieb Richard Strauß seine Tondichtung für Orchester Also sprach Zarathustra – frei nach Friedrich Nietzsche. Das C-Dur – c-Moll vs. c-Moll – C-Dur ist seitdem zu einem ähnlichen Topos geworden wie Anfang und Schluss von Beethovens Fünfter Symphonie.

Im Herbst 1898 komponiert Reger seine Phantasie und Fuge c-Moll op. 29: Herrn Richard Strauß verehrungsvollst zugeeignet.

Punctus contra punctum: Weiß man darum, dass Reger die Tonart C-Dur äußerst selten komponiert und weiß man, ausgehend beispielsweise von op. 27 Ein feste Burg um den sehr pointierten oder ausgehend von op. 52, 2 Wachet auf! um die äußerst bewusste und höchst subtile Setzung von C-Dur an vier Stellen dieser Choralphantasie, dann möge man nun an den »Monolog Nr. 8« aus Opus 63 dementsprechend subtile Rückfragen stellen. Dass Reger mit op. 63 / 2 ein ausladende Orgelfuge in C-Dur schreibt, ist im Grunde – von op. 56, 4 als einem eher kleineren Werk abgesehen – die absolute Ausnahme.

Meine weiterführenden Gedanken dazu lauten:
Heft I setzt mit Monolog Nr. 1 und 2 c-Moll und C-Dur; Monolog Nr. 4 setzt a-Moll. Heft II setzt mit Monolog Nr. 5 f-Moll und endet mit Halbschluss in C-Dur; Nr. 6 umkreist C-Dur indirekt, denn es ist die Dominante der Grundtonart f-Moll; Monolog Nr. 8 setzt zwar im Titel C-Dur, doch in der Realität befindet man sich in a-Moll. Im Schluss wird C-Dur dann inszeniert als ein kaum je erwartbarer aber umso vehementer einsetzender

D u r c h b r u c h

in mitten der Abgründe der Desorientierung.

Was also ist Heft II im Gefüge der insgesamt zwölf Monologe?

Es manifestiert sich die Tonart f-Moll zunächst in der Introduktion, wobei diese in f-Moll erklingt, aber mit Halbschluss in C-Dur endet. Anhand des zweiten Stückes Passacaglia f-Moll manifestiert sich dann die Tonart f-Moll in elementarer Weise. Und kaum begann dann das folgende Ave Maria, so führt dessen Musik von A-Dur bereits in Takt 2 wieder nach f- Moll und somit ins Dunkel zurück. Es folgt dann die soeben diskutierte Fantasie als ein auf die Tonart a-Moll bezogenes Stück. Der so völlig unerwartete C-Dur-Schluss ist dann – wie es beispielsweise auch in Mozarts Orgelfantasien KV 594 und 608 der Fall ist – eine Antwort auf das Dunkel der Tonart f-Moll. Nun kann man sagen

In jedem der vier Stücke von Heft II aus den ›Monologen op. 63‹
stellt Reger die Tonart C-Dur aus je einer anderen Perspektive dar.
Damit wird C-Dur zur eigentlichen inneren Mitte dieses Opus 63.

Welchen Anteil hat dann Heft III an diesem Diskurs über C-Dur, der im Grunde mit dem CDur- Schluss des ersten Stückes eröffnet wird? Nicht den geringsten!

Inszenierte Desorientierung!

Ein Inbegriff der ›inszenierten Desorientierung‹ findet sich – neben Fantasia ›C-Dur‹ – unter den drei leisen Stücken von Regers op. 63 als Nr. 11 Kanon D-Dur. Dabei muss man das ›D-Dur‹ in der Tat sehr ausdrücklich in Anführungszeichen setzen: Unter den 44 Takten dieses Stückes lässt sich in seiner ersten Hälfte die Tonart D-Dur gerade einmal in Takt 4, die Tonart A-Dur in Takt 13 oder die Tonart h-Moll in Takt 23/24 einen winzigen Moment lang anhand einer Abkadenzierung ausmachen. Überall sonst befindet man sich im Meer der Modulationen, sodass man insbesondere zu Beginn, aber auch im übrigen Verlauf dieses Stückes geradezu von einer Verweigerung sprechen muss, den Boden gewohnter Tonalität je berühren zu wollen. Neben einer Modulatorik in Permanenz ist ein Grund dafür auch der Septim-Abstand der Kanonstimmen. Ab Takt 15 kommt ein weiterer Umstand hinzu: Betrug in Takt 1 bis 14 der Imitationsabstand zwei Viertel, so verkürzt er sich – ohne erkennbaren Grund – ab Takt 15 bis zum Schluss auf eine Viertel.

Oder was halten Sie, verehrte Leserinnen und Leser von folgender Idee:

Nr. 1 Praeludium c-Moll, Nr. 2 Fuge C-Dur – Nr. 11 Canon D-Dur, Nr. 12 Scherzo d-Moll

Terz es Terz e Terz fis Terz f

Und so gibt es weitere Brücken zwischen Stücken, denn beispielsweise kehrt die bewusste Provokation der Harmonik c-e-gis zu Beginn von Stück 4 als übermäßiger Dreiklang zu Beginn von Nr. 5 als as-c-e und als f-a-des des ersten Taktes wieder.

Definitiv aber – und das erscheint mir sehr wichtig – komponiert Reger zwischen den beiden Hälften aus Nr. 1 bis 6 zu Nr. 7 bis 12 eine Brücke: Es handelt sich um das bereits erwähnte Momentum zu Beginn von Stück 7 Ave Maria. Dort wird gleich zu Beginn Ton cis in Ton des enharmonisch verwechselt u n d es ergibt sich dadurch in Takt 2 die Konstellation

c′-des′-e-f′

als Kreuzesfigur.

Und nach nun erfolgter Sensibilisierung für den ›Topos C-Dur‹ bedeutet der Beginn von Takt 2 des Ave Maria anhand der Töne

e′′ e′ c′ g

ein Lichtmoment, dessen Korrelation mit Nr. 2 Fuga C-Dur sowie mit dem C-Dur-Schluss von Nr. 8 Fantasia C-Dur nun vollends zu einem Aspekt subtilster Hermeneutik der Musik Regers und seiner zwölf Monologe – aller schwerer Kost zum Trotz – wird.

Wo also könnte man nun stehen?

Nr. 1 Praeludium c-Moll, Nr. 2 Fuge C-Dur – Nr. 11 Canon D-Dur, Nr. 12 Scherzo d-Moll

Terz es Terz e Terz fis Terz f

Nr. 4 zu Nr. 5: Brücke durch übermäßigen Dreiklang

Nr. 8 zu Nr. 9: Brücke durch kontrastierende Satzfakturen

Nr. 6 zu Nr. 7:

Auf Basis von Hermeneutik darf nun als inneres geistiges Zentrum und als innere

M i t t e

der ›Zwölf Monologe‹ der Übergang von Stück 6 Passacaglia f-Moll zu Stück 7 Ave Maria gelten. Zugespitzt gesagt: Hieraus ergibt sich nun alles Weitere.

Dieses ›Weitere‹ ergibt sich dann nicht zuletzt auch für die übrigen Stücke der Opusnummern 63, 65 und 69 sowie – wie ich meine – insbesondere für Regers vielleicht wichtigstes Orgelwerk:

V a r i a t i o n e n u n d F u g e fis-Moll op. 73.

Als Brücke dorthin sehe ich:
Die Tonarten fis-Moll und C-Dur stehen zu einander im Tritonus. Und:
Das Ende des Basso ostinato der Passacaglia f-Moll op. 63, 6 lautet

c-des-E-F.

Dort, wo sich in Regers op. 73 erstmals die Tonart fis-Moll stabil wahrnehmen lässt, ist, nachdem bereits etliche Minuten Musik erklungen waren und eine lange und zerklüftete

I n t r o d u k t i o n

durchschritten war, das Ende des ›Themas der Variationen fis-Moll‹ anhand einer Kadenzierung erreicht. Diese lautet im Diskant

cis′′-d′′-eis′-fis′.

Dieses Thema erklingt in 6/8.

Zum Vergleich:
Opus 63, 6 erklingt in 3/4 und lässt darin pro Takt sechs Achtel erklingen; der Basso ostinato der Passacaglia f-Moll op. 63, 6 schließt jeweils mit c-des-E-F; die formale Bestimmung einer Passacaglia sind Variationen; es folgt das Ave Maria A-Dur op. 63, 7; es erklingt in 6/8 in der Art einer Pastorale; auch das Thema der Variationen aus op. 73 ist eine Pastorale; Takt 2 des Ave Maria bringt

c′-des′-e-f′.

Was ist dann Regers Opus 73 unter hermeneutischen Gesichtspunkten? Welchen geistlichen Ort nimmt dieses Werk angesichts dieser unbestreitbaren Kontexte ein? Und warum benennt Reger nicht in dem von ihm gewählten Titel, dass in op. 73 eine Introduktion den Anfang macht, zumal diese recht umfangreich ist? Und was bedeutet es für den Hörer, wenn ihn der Originaltitel annehmen lässt, das Werk aus ›Variationen und Fuge‹ beginne mit dem Thema, um dann – möglicherweise frustriert – festzustellen, dass das, was er hier hört, unmöglich ein ›Thema‹ sein könne?

Genau dies führt mich hier vollends sehr dezidiert zur Annahme, dass Reger in op. 73 – in Rückbezug zu den Monologen op. 63 – etwas praktiziert, was ich ›inszenierte Desorientierung‹ nenne. Aber warum tut er das?

Diese Rückfragen unter der Prämisse von Regers op. 63 vs. op. 73 ist im Projekt DVVLIO Gegenstand der zweiten ›Musikalischen Feierstunde‹ in der Evang. Stadtkirche Giengen / Brenz mit Pfarrer Dr. Joachim Kummer anhand der Orgel-Interpretation von Christoph Preiß im Rahmen der Internationalen Max-Reger-Orgelakademie zum Regerjahr 2023. In diesem Rahmen fand dann am nächsten Abend die dritte ›Musikalische Feierstunde‹ mit Regers Bach-Variationen für Klavier op. 81 statt, nun mit Christoph Preiß am Klavier.

Heft I
Ph. Furtwängler & Sohn, Gronau 1860
1. Präludium c-Moll
2. Fuge C-Dur
3. Canzone g-Moll
4. Capriccio a-Moll

Heft II
P. Furtwängler & Hammer, Lüneburg 1899
5. Introduction
6. Passacaglia f-Moll
7. Ave Maria!
8. Fantasie C-Dur

Heft III
P. Furtwängler & Hammer, Salzwedel 1914
9. Toccata e-Moll
10. Fuge e-Moll
11. Canon D-Dur
12. Scherzo d-Moll