Reger op. 60 und Stücke ohne Opuszahl

19.02.2024

Im Unterschied zu Bach, wo es hinsichtlich der Entstehungszeit von Orgelwerken viel Unsicherheit gibt, sind hier bei Reger kaum Fragen offen. Seine ›Zweite Sonate d-Moll op. 60‹ ist Regers erste Komposition in München und er kann mit Opus 19 bis 59 auf eine wahre Schaffenseruption zurückblicken, wie sie sich 1898 bis 1901 in Weiden ereignete, nachdem er in Abkehr von seiner sog. ›Sturm- und Trankzeit‹ der Jahre zuvor in Wiesbaden in sein Elternhaus nach Weiden zurückgekehrt war.

Im Titel ›Zweite Sonate d-Moll op. 60‹ knüpft Reger an sein op. 33 in fis-Moll an, wobei man für die Orgelwerke op. 27, 29, 30 und 33 einen motivischen Zusammenhang erkennen kann, der sich aus der ersten Choralzeile des Luther-Liedes Ein feste Burg ist unser Gott ableiten lässt. Insofern dürfte Reger, wenn er Satz 2 seines Opus 60 mit dem Luther-Lied Vom Himmel hoch, da komm ich her beschließt, eine Brücke intendiert sein. Den Titel ›Sonate‹ will Reger als ›Kollektivtitel‹ verstanden wissen und er führt dazu explizit aus, dass er den Topos des Themendualismus der klassischen Sonatenform für eine Orgelsonate als ungeeignet erachtet.

Dessen ungeachtet ergeben sich in Regers Opus 60 vielfältige Rückbindungen an die klassische Sonatenform: 1) Schnell – Langsam – Scherzo – Finale; 2) Seitensatz in Satz 1 ab Takt 27. Bewertet man jedoch den Gegensatz zwischen Takt 1 und Takt 7 des Satzes 1 der ›Zweiten Sonate‹, so fällt ins Gewicht:

a Es kontrastiert die Eröffnung in Fortissimo und das Piano ab Takt 7. Dies entspricht nicht dem klassischen Topos eines ›Hauptthemas‹; dies kann weitergeführt werden anhand der Aussage, dass hier gar kein ›Hauptthema‹ im klassischen Sinne exponiert wird und dass dies zum Titel ›Improvisation‹, den Satz 1 trägt, korreliert.

b Man bemerkt jedoch, dass zwischen den Takten 1 und 7 von Opus 60 anhand von d′′-c′′-a′-b′ und g′′-f′′-d′′-e′′ eine motivische Brücke besteht. Diese Brücke kennt man in Regers Schaffen seit seinem Opus 46 über b-a-c-h, indem Reger dort das Motiv b′-c′′-es′′-d′′ als Kontrapunkt zu b-a-c′-h einführt. Da für das Motiv b′-c′′-es′′-d′′ an einer Rückbindung an Mozarts Jupiter-Symphonie kaum Zweifel bestehen dürften, werden nun semantisch aufgeladene Dialektiken Bach-Mozart einerseits, Bach-Mozart-Reger andererseits in diesem Opus 46 erkennbar. In Regers Variationen fis-Moll op. 73 taucht Mozarts Jupiter-Topos erneut in Takt 3 des Themas auf – nun aber vermutlich verknüpft mit Dvoraks Credo in unum Deum seiner Messe D-Dur – und in Regers monumentalem Orgel-Opus 127 wird es zu Thema 2 der Schlussfuge.

a Bewusste Reduktion der satztechnischen Komplexität im Unterschied zu Regers ›Symphonischer Phantasie und Fuge op. 57‹, deren Satz 1 in d-Moll steht – wiewohl man diese Tonart lange Zeit kaum wahrnehmen kann – und deren Satz 2 in D-Dur erklingt. Ein ähnlich rückbezügliches Reduktionsmoment erkennt man bereits in Toccata d-Moll und Fuge D-Dur op. 59, 5 und 6.

b Die ›semantische Aufladung‹ von Opus 59, Stücke 1 und 2 als Topos der Apokalypse in Praeludium e-Moll (Nr. 1) vs. Pastorale F-Dur (Nr. 2) und von Opus 60, Stück 1 ›Improvisation‹ und Stück 2 ›Invokation‹ als folgende semantische Topoi:

Topos der Finsternis und der Nacht mittels Umkehrung des Jupitertops als d′′-c′′-a′-b′ und g′′-f′′-d′′-e′′ (Nr. 1, Takt 1ff bzw. Takt 7ff), gepaart mit Unruhe und Aufbruch (Nr. 1, Takt 1 ff in crescendierendem Verlauf sowie Bass ab Takt 7). Weiterführung durch Satz 2 als ›Invokation‹ mit Affektbezeichnung ›Grave con duolo‹. Nachdem im Mittelteil von Satz 2 das Momentum des Drängens aus Satz 1 zurückkehrt, schafft der Choralsatz zu Vom Himmel hoch, da komm ich her dazu einen äußersten Gegensatz, indem nun erstmals Ruhe und Gelassenheit im Werk Einzug hält.

c Der Wechsel von forte und piano schafft eine Dualität in Permanenz, die jedoch kontrastiert zur Dreiteiligkeit der A-B-A-Form, die in Regers Opus 60 sämtliche vier Sätze bestimmt. Genau diese Merkmale bestimmen auch Regers Opus 59. Aus der viermal wiederkehrenden A-B-A-Form ergeben sich für Opus 60 zwölf Abschnitte in Korrelation zu den ›Zwölf Stücken op. 59‹.

d Nachdem Reger mit den sieben Choralphantasien op. 27, 30, 40/1 und 40/2 sowie 52, 1 bis 3 das kompositorische Problem von Zusammenhang mittels Strophenform und Choralmelodie variativ lösen konnte oder anhand des b-a-c-h-Motivs für Opus 46 ein klar fassliches Motiv den großformalen Zusammenhalt garantierte, tritt mit den sechs Trios op. 47, den zwölf Stücken op. 59 und den vier Sätzen von op. 60 das kompositorische Momentum des kleinteiligen Charakterstücks in den Fokus. Auf formaler Ebene werden insbesondere Fragestellungen, wie sie hieraus kompositorisch als Frage nach Teil und Ganzem erwachsen, dann ab den ›Zwölf Monologen op. 63‹ Regers weiteres Orgelschaffen wesentlich bestimmen.

e Auf motivischer Ebene ergibt sich aus dem Jupitertopos und dessen Möglichkeiten der Umkehrung die Quart als Ambitus und Sekundschritte als Binnenbewegung. Wie Reger dies in der ›Zweiten Sonate‹ ausschöpft, zeigt den Variantenreichtum von Regers motivischer Arbeit. Auch dies wird ab den ›Zwölf Monologen op. 63‹ in vielfältiger Weise weitergeführt.

Op. 60, Improvisation

Op. 60, Invocation

Op. 60, Introduktion und Fuge