Max Reger, Zwölf Stücke für Orgel op. 59
24.11.2023
Op. 59 ist Regers letztes in Weiden komponiertes Werk. Es entstand vom 17. Juni bis 1. Juli 1901. Reger folgte im Kompositionsprozess einer strengen Disziplin, indem er sein op. 59 an zweimal sechs Werktagen niederlegte.
Ebenso diszipliniert scheint es sich mit der Formgebung der zwölf Stücke zu verhalten: Ich meine, dass Reger hier – erstmals in seinem Orgelschaffen – einen symmetrisch strukturierten Zyklus vorlegt und dazuhin anhand der Symmetrie
3
2 4
1 5
6 7
8 12
9 11
10
nicht allein auf den Beginn seiner Choralphantasie Wachet auf! ruft uns die Stimme op. 52, 2 rekurriert,
es′
d′ d′
h h
a a
g g g
f f
E E
D D
C
[siehe die dreiklangbildenden Tonhöhen der ersten fünf Achtel in op. 52, 2]
sondern in op. 59 anhand der fünfteiligen Palindrom-Struktur auch seinen Namen einbringt:
G
E E
R R
6 7
Fuge D-Dur vs. Kyrie e-Moll
R R
E E
G
Wie bereits anhand der Kommentare zu op. 52, 1 bis 3 und zu op. 57 eingebracht, kündigt sich die Palindrom-Struktur fis-e-d-[e-fis] im ersten piano-Einwurf der Introduktion zu Alle Menschen müssen sterben op. 52, 1 an. Beim zweiten piano-Einwurf im Übergang zum Erstauftritt des Chorals präsentiert sich dann das Palindrom in Gänze als
fis – e – d – e – fis.
In op. 52, 2 nimmt das Hauptgeschehen von e-d-c-d-e seinen Ausgangspunkt und bestimmt in op. 52, 3 die Introduktion anhand folgender Situationen zu Beginn sowie im weiteren Verlauf der Introduktion in op. 52, 3:
e-Moll, Ton D, C-Dur, D-Dur, G-Dur.
In op. 57 beginnt das Fugenthema mit dem Palindrom
d e fis e d Freu dich sehr, o mei-[ne Seele],
das wiederum auf Regers gleichnamige Choralphantasie op. 30 bezogen werden kann, wobei deren erstes Fugato und das daraus gewonnene Ritornello wieder die Comes-Gestalt zum Cantus Firmus Ein feste Burg ist unser Gott ist und so die Brücke zu Regers Choralphantasie op. 27 darstellt.
In Regers Choralphantasie Ein feste Burg ist unser Gott op. 27 sind gleich zu Beginn vermittelt:
Tonart D-Dur als Grundtonart;
Tonart C-Dur als erster Akkordschlag des gesamten Werkes in gravitätischer Manier;
Tonart B-Dur, auf die in D-Dur stehenden Trioteile folgend, erklingend in gravitätischem Choralduktus. Diese homophonen Choralabschnitte in B-Dur prägen in Regers op. 27 die Strophen 1 und 2.
In Strophe 3 erfährt die Tonart C-Dur einen erneuten Auftritt: Der Abschnitt Und wenn die Welt voll Teufel wär wird in C-Dur eröffnet und die Choralzeile ein Wörtlein kann ihn // fällen vollzieht anhand von C-Dur in höchster Lage ihre Climax. Damit wird die gesamte dritte Strophe gleichsam durch C-Dur umschlossen.
In Strophe 4 ist D-Dur die bestimmende Tonart, doch ergeben sich zuweilen markante Manifestationen der Tonart Fis-Dur. Folgende Bilder können assoziiert werden:
D C B C D
r e g e r
D
C C
B
FIS
C r u x
Mit op. 27 beginnt und mit op. 59 endet Regers so eminent produktive Weidener Zeit 1898 bis 1901. Dass op. 59, 1 Praeludium e-Moll zu Beginn die Akkordfolge e-Moll – D-Dur – C-Dur und im Pedal die Töne E, D, C aufreiht, was dann erneut in op. 59, 7 dessen Schluss anhand der im Pianissimo erklingenden Folge E-Dur – c-Moll – E-Dur bestimmt, werte ich als ein weiteres Indiz im skizzierten Zusammenhang insbesondere mit op. 52, 2.
Nun komme ich zum Symmetrie-Nachweis für Regers op. 59.
a Die Gruppe
3
2 4
1 5
vs.
8 12
9 11
10
ist:
Intermezzo
Pastorale Kanon
Praeludium Toccata
vs.
Gloria Te Deum
Benedictus Melodia
Capriccio
[kursiv: Stücke, deren liturgische oder geistliche Zuordnung unschwer erkennbar ist]
Die Stücke 2, 4 vs. 9, 11 umkreisen das Piano der Orgel und haben im jeweiligen Beginn das Charakteristikum des Sext-Intervalls:
Nr. 2 Pastorale c′ a′ g′ a′ f′.
Nr. 4 Kanon Imitationsintervall der Sext; aus gis-a-h-fis (8′, 4′) wird e′ fis′ gis′ dis (8′);
gis′-a′-h′-fis′ im 4′-Klang wird weitergeführt in e′ fis′ gis′ dis′ im 8′-Klang;
aus h′-fis′ zu gis′-dis′ in zwei absteigenden Quarten wird im symmetrischen Gegenstück
Nr. 9 Benedictus des′′′ a′′ b′′ f′′.
Nr. 11 Melodia eröffnet mit synchronen Sexten und bindet sich so zurück an die Eröffnung in Nr. 2 Pastorale.
Dass man das Intervall der Sext in allen zwölf Stücken des op. 59 nachweisen kann, ist Gegenstand des DVVLIO-Lehrvideos zur Eule-Orgel in Bautzen 1913 im Abschnitt ›Reger und Hermeneutik‹.
Dass die Stücke 1 und 5 als Praeludium und Toccata auf formaler Ebene und die Stücke 8 und 12 als Gloria und Te Deum auf liturgisch-semantischer Ebene jeweils paarweise korrelieren, ist ebenso evident wie andererseits die beiden durch 6/4-Takt und 6/8-Motivik vermittelten Mittenstücke Nr. 3 Intermezzo und Nr. 10 Capriccio.
Bleibt das Gegensatzpaar Nr. 6 Fuge D-Dur und Nr. 7 Kyrie eleison. Sie sind Mitte der 12 Stücke, korrelierend zum Intermezzo als Mitte der Stücke 1 bis 5 und zum Capriccio als Mitte der Stücke 8 bis 12. So gegensätzlich beide Stücke sind, so besteht zwischen ihnen ein Gleichheitszeichen:
Nr. 6 Fuge D-Dur = accelerando = Nr. 7 Kyrie eleison
Mir offenbart sich hier erneut der Mystiker Reger, der das Wort des Cusanus von der Coincidentia oppositorum, die ihm die Schau des Göttlichen ist, als Zusammenfall von Gegensatz und Gleichheit offenbar gänzlich kompositorisch zu durchdringen sucht.
Für mich ergibt sich zudem anhand der drei Mitten Nr. 3 / 6, 7 / 10 von Regers kompositorischem Konstrukt das Zeichen des Kreuzes aus
Intermezzo
Fuge D-Dur Kyrie
Capriccio.
Dieses Kreuz aber kann man eingewoben sehen in zwei weitere Kreuzestopoi
Präludium
Pastorale Kanon
Toccata
Gloria
Benedictus Melodia
Te Deum
Gehe ich zu weit, wenn ich nun in den zwölf Stücken op. 59 ein Bild von Golgatha erkennen möchte?
Und gehe ich zu weit, wenn ich anhand der gegebenen Strukturen aus
Intermezzo
Pastorale Kanon
Praeludium Toccata
Fuge D-Dur Kyrie eleison
Gloria Te Deum
Benedictus Melodia
Capriccio
zugleich das Symbol von
Kreis
(alle 12 Stücke zusammen)
und
Kreuz
(1 + 2 + 1 = 4 Mittenstücke)
erkennen möchte, wie es die Wände unzähliger mittelalterlicher Kirchen ziert?
Wissen Sie denn nicht, wie sich durch alle meine Sachen der Choral zieht:
Wenn ich einmal soll scheiden?
…
so scheide nicht von mir;
wenn ich den Tod soll leiden,
so tritt du dann herfür;
wenn mir am allerbängsten
wird um das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner Angst und Pein.
Bleiben noch folgende Aspekte:
a Der Parallelismus aus Beginn der ersten und Beginn der zweiten Hälfte anhand der Stücke
1 und 7, verkörpert durch den Modus der Eröffnung sowie der gleichen Tonart e-Moll;
b die davon gleichsam paradox unterschiedene Ordnung von 5 + 5 Stücken als Nr. 1 bis 5 und Nr. 8 bis 12;
c das Naturhafte im Beginn des zweiten Stückes Pastorale F-Dur;
d das Paradoxale und das Mystische in Kanon E-Dur.
Reflexion dieser Punkte
Zu a Sowohl die erste wie die zweite Hälfte der zwölf Stücke wird in e-Moll eröffnet und rekurriert auf formaler Ebene anhand des Typus Präludium bzw. des Kyrie auf den Topos des Beginns. Zudem wurde Regers op. 59 in zwei Heften zu je sechs Stücken herausgegeben.
Zu b Unwillkürlich möchte ich mich bei der Anschauung von fünf plus fünf an das Gleichnis von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen verwiesen sehen, wie es Reger in op. 52, 2 anhand des Liedes Wachet auf! ruft uns die Stimme komponiert hat. Im Beginn von Regers op. 52, 2 erklingt zunächst das fünf Achtel umfassende Akkordmodell. In weiteren fünf Achteln kommt es zur Fortspinnung des Akkordmodells. Nach insgesamt 10 Achteln erfolgt, einer A-B-A-Form gleich, eine Reprise des Akkordmodells. Somit ergibt sich auf formaler Ebene ein klares Pendant zu besagtem Gleichnis, ganz zu schweigen davon, dass der Name R E G E R hierzu genau korreliert. Insofern wage ich zu sagen: In Regers op. 59 wird es wohl erneut um das Gleichnis der fünf klugen und der fünf törichten Jungfrauen gehen. Die riesige Deszendenz-Bewegung in 3/2 zu Beginn des ersten Stückes und deren Beginn mit der Akkordfolge e-Moll – D-Dur – C-Dur kann demnach als Symbol der Wiederkunft Jesu Christi am Jüngsten Tage aufgefasst werden wie andererseits der Schluss des auf das erste Stück formal bezogene Kyrie eleison anhand der Akkordfolge E-Dur – c-Moll – E-Dur einen klaren Rückbezug zum Beginn von Regers op. 52, 2 Wachet auf! ruft uns die Stimme schafft. Und ein weiterer Aspekt käme, ausgehend von diesen Wahrnehmungen, hinzu:
Nr. 1 Praeludium: Apokalypse Und kommen in den Wolken des Himmels
Nr. 2 Pastorale: Geburt des Herrn als dialektische Inversion von Apokalypse
Nr. 3 Intermezzo: Die irdische Welt als ein Taumel und ein Phantasie-Choral alla Erik Satie in dessen Mitte; dieser Taumel – die Kriegsknechte und die Gaffer, die Jesus verspotten – umgibt das Kreuz Jesu und i s t das Kreuz Jesu! Indem aber in all dem immer wieder die punktierten Rhythmen der vorangegangenen Pastorale wiederhallen, wird das Bild dialektisch-vielschichtig: Gleichermaßen Krippe wie Kreuz!
Nr. 4 Kanon: Die mystische Schau der Visio Dei als Zusammenfall der Gegensätze in Eins (siehe später dazu Pkt. d).
Nr. 5 Toccata: Aufbruch vs. Choralhaftes vs. Apokalypse vs. innere Einkehr vs. mystischer Ausblick in einer möglicherweise von Reger als Zitat verstandenen Rückbindung an Teil III von Bachs Pièce d’Orgue: Der Leib wird zu Grabe getragen; die Seele steigt zu Gott empor: Dies kann man im Schlussteil der Toccata erleben.
Dazu gleichsam im Spiegel:
Nr. 8 Gloria: Auch hier besteht insgeheim und zugleich ganz offensichtlich ein
Rückbezug zu op. 52, 2 anhand der Liedstrophe Gloria sei dir gesungen
mit Menschen- und mit Engelszungen, mit Harfen und mit Zimbeln
schön.
Nr. 9 Benedictus: Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn in unmittelbarer liturgischer Umgebung durch das Sanctus und das Osanna in excelsis. Das Osanna strebt in seinem Thema zweimal einen melodischen Spitzenton an. Dieses Momentum ist unmittelbar mit dem Kyrie-Topos vergleichbar, den Reger an den Beginn von Stück 7 setzt und das er als Assoziation an das Lied Aus tiefer Not schrei ich zu dir gestaltet. Somit fallen nunmehr Osanna in e x c e l s i s und Aus t i e f e r Not in Eins: In der Tiefe ist der Mensch auf der Höhe! Die ›tiefe Not‹ meint aber bei Reger gemäß dem Wort Wissen Sie denn nicht […] die Todesnot.
Nr. 10 Capriccio: Wie die Wiederkunft Jesu Christi am jüngsten Tage einbrechen wird in die irdische Welt, so bricht das Capriccio in der Attitüde des Prestissimo assai als Taumel und als Taumeln alles Irdischen ein in die Entrücktheit des Benedictus, das dem Capriccio unmittelbar vorangeht. Anhand der Anweisung des Komponisten L’istesso tempo = Prestissimo assai gerät die Wiederkehr des Typus ›Phantasie-Choral‹ als Mittelteil des Capriccio vollends zur Groteske – das Gleichnis von der Törichtheit des Menschen erfährt hier und im Schluss des ganzen Stückes mittels der Anweisungen sempre crescendo – non ritardando – Org Pl seine finale Zuspitzung als Groteske.
Nr. 11 Melodia: In dialektischer Umkehrung zu Stück 2, das dem Hörer die Geburt des Herrn ins Bewusstsein rückt, wird das zweitletzte Stück nun zum Grabgesang. Auch hier ergibt sich der unmittelbare Rückbezug zu Regers op. 52, 2, denn dessen Introduktion charakterisiert Reger mit dem Wort Friedhofsruhe; Totenstille, aber auch: Inniges Gedenken wäre dazu nun das Synonym.
Nr. 12 Te Deum: Mit dem Te Deum laudamus folgt nun der große Lobgesang, der jedoch in der Bitte um Gnade im Gericht kulminiert (non confundar in aeternum). Zentrales Thema ist die Vereinigung der himmlischen Heerscharen, der Apostel, Propheten, Märtyrer mit der ganzen Kirche zum himmlischen Lobgesang. Liturgisch hat das Te Deum daher seine Verortung in höchsten katholischen Zeremonien wie Abts- oder Äbtissinnenweihen, Bischofsweihen bis hin zur Papstwahl. Im Bild des Liedes Wachet auf! ruft uns die Stimme kommt es hier zum Symbol der himmlischen Hochzeit als dem Inbegriff aller christlichen Mystik – der Unio mystica: Der Vereinigung von Christus als dem Bräutigam mit der Seele des Menschen als Braut.
Es ergibt sich zugleich anhand dieses letzten Stückes von Regers Weidener Schaffenszeit ein Rückbezug zu dessen Orgel- Erstling op. 7 und Te Deum laudamus op. 7, 2, aber auch – wie gesehen anhand D-C-B-C-D – zu dem Weidener Erstling op. 27 Ein feste Burg ist unser Gott.
Zu c Kosmos, Natur, Tier und Mensch bedeuten unseren Lebensraum. In diesen Lebensraum – in unser Leben – wird Christus zur Mitternacht hineingeboren. Daher erscheint es mir wichtig, auf das Naturhafte im Beginn des zweiten Stückes Pastorale F-Dur hinzuweisen: Zu Beginn der Pastorale, der historisch aufgrund des Bezugs zur F-Orgel die Tonart F-Dur zugehört, entfalten sich – wie sonst kaum bei Reger in solch elementarisierter Weise – nach einander die Teiltöne 1, 3 und 5. Dies hält erneut einen mystischen Gedanken bereit: Die Teiltonreihe ist Naturtonreihe und an ihr entfaltet sich ein Naturgesetz, das zu Klang wird und das bis hin zu Regers Lebenszeit des Jahres 1901 jegliche Musik bestimmt. Reger sind Natur und Naturgesetze Ausdruck der Schöpfung Gottes. Und durch seine Geburt im Stall zu Bethlehem wird nunmehr inmitten von Tier, Mensch und Engeln sichtbar, was zuvor der Ratschluss Gottes war: Der Sohn Gottes wird Mensch und somit Teil der irdischen Natur. Und in Krippe und Kreuz wird er allen Menschen zum Heiland und Erlöser.
Zu d Nun noch ein Wort zu Kanon E-Dur: Er hält in meinen Augen ein formales Paradoxon und ein wundervolles Mysterium bereit. Das Paradoxon ist, dass die Kanonstimme stets im Abstand von zwei Vierteln antwortet, während das Stück als solches im ¾-Takt notiert ist – die erste Viertel im Takt wird nun auf Zählzeit 3 imitiert, die zweite Viertel im Takt auf der starken Zählzeit des nächsten Taktes. Macht dies musikalisch Sinn? Wohl kaum!
Was entsteht, ist gleichsam die dialektische Umkehrung des Kanonprinzips in musikalische Prosa! Die Drei-Zeitigkeit ist dem Himmlischen, die Zwei-Zeitigkeit dem Irdischen geschuldet – beides durchdringt sich und gelangt zu einer neuen Einheit:
In ihm leben, weben und sind wir.
Damit ist aber dem Mysterium noch nicht gänzlich Genüge getan: Hat man während des Zuhörens das Kanonkonstrukt nicht immer verfolgen können, so eröffnet die Reprise nach 15 Takten eine zweite Chance. Dann folgen bis zum Schluss weitere 9 Takte.
15 zu 9
=
5 zu 3
wie
fünfter Teilton zu drittem Teilton
wie
Dezim zu Quint
=
Intervall der Sext
=
Grundintervall der Stücke
2, 4 vs. 9, 11
als das Grundintervall der Sext, das in allen zwölf Stücken hervortritt.
15 + 9
=
24
Mitternacht heißt diese Stunde!
Sie rufen uns mit hellem Munde:
»Wo seid ihr klugen Jungfrauen?
Wohlauf, der Bräutgam kommt,
steht auf, die Lampen nehmt!
Halleluja!
Macht euch bereit zu der Hochzeit;
ihr müsset ihm entgegengehn!«
UNIO MYSTICA