Max Reger op. 56
19.09.2023
»Fünf leicht ausführbare Praeludien und Fugen« nennt Reger sein Opus 56. Die Ahnengalerie dieses dualen Formtypus dürfte beispielsweise von Frescobaldis Terminus Toccata avanti il Ricercar, gefolgt vom Ricercar angeführt sein; bei J. C. Ferdinand Fischer, J. S. Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy finden sich dann große Zyklen von Praeludien und Fugen als Ariadne Musica, als Das Wohltemperirte Clavier (I und II), als Zyklen op. 35 für Klavier und op. 37 für Orgel.
Sein Opus 7,1 widmet Max Reger diesem Genre. Eine »Phantasie und Fuge c-Moll« op. 29 ist damit verwandt, ebenso Regers op. 46 über b-a-c-h. Doch Opus 56 ist Regers erster Zyklus des dualen Formtypus Praeludium und Fuge, gegliedert in zwei + drei Paare. In Opus 85 finden wir dann noch einmal vier Paare in diesem Typus. In den zwölf Stücken op. 59 setzt Reger das Paar Toccata d-Moll und Fuge D-Dur an Position 5 und 6 sowie das Paar Kyrie und Gloria an Position 7 und 8. Hieraus sowie anhand der Stücke 2, 4 vs. 9 und 11, die in leiser Dynamik erklingen und auf das Intervall der Sext bezogen sind, lässt sich dann die Symmetrie-Struktur von Regers Opus 59 erschließen.
In einen zwölf Monologen op. 63 erklingen als Stücke 1 und 2 Praeludium c-Moll und Fuge C-Dur sowie als Stücke 9 und 10 Toccata e-Moll und Fuge e-Moll. In Synopse mit weiteren solchen Paaren kommt man zu folgender Liste:
op. 7, 1
op. 29
op. 46
op. 56 in fünf Paaren
op. 57
op. 59, 5 und 6
op. 63, 1 und 2 sowie 9 und 10
op. 65, 5 und 6 sowie 7 und 8 sowie 11 und 12
op. 69, 1 und 2 sowie 6 und 7 sowie 9 und 10
op. 80, 1 und 2 sowie 11 und 12
op. 82, Heft IV, Nr. 1 und 2 in Orgel-Transkription (ohne Opuszahl)
op. 85 in vier Paaren
op. 92, 1 und 2 sowie 6 und 7
op. 129, 1 und 2 sowie 8 und 9
op. 135b
ohne Opuszahl:
Präludium und Fuge d-Moll
Präludium und Fuge gis-Moll
Summe: 32 Paare
Regers Werke Opus 27 bis 59 sind seiner Weidener Zeit zugeordnet. Reger schreibt am 28. Februar 1904 an Walter Fischer: Das neue Orgelwerk (aber schon vor drei Jahren geschrieben) heißt: op. 56, Fünf leicht ausführbare Präludien und Fugen für Orgel. Ich glaube, dass die Dinger gut sind. (Kommentar von Hans Haselböck 1987 in der Reger-Gesamtausgabe der Orgelwerke).
Allerdings äußert Adalbert Lindner, Regers Weidener Lehrer und dessen späterer Biograph, dass er sich nicht erinnern könne, diese Stücke je in Reger’s Weidener Zeit, die die Werke op. 27 bis 59 umfassen, wahrgenommen zu haben. Und es berichtet Fritz Stein (Reger-Werkverzeichnis S. 85): »Die Opuszahl 56 sollte ursprünglich das im Frühjahr 1901 begonnene Klavierquintett c-Moll erhalten, das erst im Mai 1902 vollendet wurde. Da Reger inzwischen bis op. 63 vorgeschritten war, gab er dem Quintett die Werkzahl 64, und diese in München entstandenen Orgelpräludien erhielten die in der Reihe fehlende Nummer 56, die dieses Opus also nur s c h e i n b a r in die Weidener Werkreihe einordnet.«
Die widersprüchlichen Sachverhalt der Entstehungszeit von Regers op. 56 klärt sich jedoch, wie oben zitiert, durch Regers am 28.02.1904 an Walter Fischer geschriebenen Brief (…aber schon vor drei Jahren geschrieben) eindeutig auf.
Zyklus oder Sammlung?
Diese Frage wird mir zu einer hermeneutischen Fragestellung im Sinne dessen, dass der Terminus Sammlung den pragmatischen Aspekt betont, wohingegen das Wort Zyklus die vom Komponisten getroffene Reihung weit ernster bewertet im Sinne einer kompositorischen Setzung. Gleichwohl, ob man nun von Sammlungen sprechen möchte oder eher von Setzungen oder Verortungen in zyklischem Sinne, ist zu erkennen, dass mit den in Weiden entstandenen Sechs Trios op. 47, dem zehnteiligen Zyklus aus fünf Praeludien und Fugen op. 56 sowie den Zwölf Stücken op. 59 etwas beginnt, was mit Regers op. 63, 65, 67, 69, 79, 80, 85, 129, 145 sehr weit gefächerte Ausmaße annimmt. Ich meine, dass sich dabei aufgrund immer wieder neuer und oftmals überraschend und unerwartet wirkender Reihungen – warum folgt in op. 59 auf Nr. 9 Benedictus ein Nr. 10 Capriccio Prestissimo assai und warum in op. 65 auf Nr. 2 Capriccio Prestissimo assai ein Nr. 3 Pastorale – innerhalb dieser Gebilde die hermeneutische Frage in höchst notwendiger Weise stellt.
Welchen Geist atmen nun die zehn Stücke op. 56?
E-Dur
Mystische Tonart einer »Himmelsweide«;
vgl. Consolation E-Dur von Franz Liszt.
Siehe bei Reger:
op. 16, E-Dur-Mittelteil der Passacaglia e-Moll;
op. 47, erstes der »Sechs Trios« in E-Dur;
op. 52, 2, Choralphantasie Wachet auf! ruft uns die Stimme in e-Moll / E-Dur;
op. 60, 2 Choral Vom Himmel hoch, da komm ich her in E-Dur;
op. 65, 1 und 0p. 65, 2 jeweils mit ppp-Mittelteil in E-Dur.
Takt 3 des Fugenthemas ist sehr deutlich verwandt mit dem Mittelteil der Passacaglia aus op. 16 sowie in op. 52, 2 mit dem Abschluss des Adagio (und
halten mit das Abendmahl) im Übergang zur Fuge.
d-moll
In Takt 3 erklingt E-Dur über Orgelpunkt D;
das Präludium entpuppt sich zuweilen als Pastorale;
die Fuge verweist hingegen auf den irrlichternden Typus des Capriccio.
G-Dur
Präludium: Pastorale – Geburt des Herrn; Mittelteil im Topos der Angst und Not; Reprise als Rückkehr zur mystischen Ebene.
Fuge: Thema mit je drei steigenden Quartzügen mit permanentem Crescendo als Topos der Auferstehung.
C-Dur
Aufgrund der äußerst sparsamen Setzung von C-Dur als Tonart in Regers Orgelwerken (erstmals als op. 7, 1; dann als Leuchtpunkte in op. 27 und als
viermaliger Lichttopos in op. 523, 2) darf op. 56, 4 als eine besondere Setzung Regers im Sinne eines Lichttopos gelten, wobei dessen
Confutatio, also dessen Brechung, ein wesentlicher Aspekt des Präludium C-Dur wird.
Fuge: Ein Stück Himmelsweide, in pp verklingend.
h-Moll
Im vorletzten Takt der Fuge erscheint C-Dur im vollen Werk auf der neapolitanischen Stufe.
Das Präludium gleicht einer Passionsarie, die Fuge setzt Schmerz und Hoffnung in vielfache dialektische Beziehungsverhältnisse.
Anmerkung
Zu Regers Titel Fünf leicht ausführbare Präludien und Fugen, den er für sein Opus 56 wählte, möchte ich mir ebenfalls einen kurzen Kommentar erlauben:
Nein! Sie sind nicht leicht ausführbar, es scheint nur so!
Ein wenig leichter ist jedes der zehn Einzelstücke, weil sie jeweils kürzer sind und weil man den Zeitraum von 5 Minuten leichter überblicken und steuern
kann als den von 20 Minuten oder mehr.
Aber um diese zehn Stücke als die kompositorischen Goldstücke zu präsentieren, die sie sind, braucht es eine gute Orgel, die poetische Mischungen zwischen Streicher- und Flötenregistern ermöglicht. Und es braucht allen musikalischen Verstand, Geist und eine Technik, die das Allegrissimo der Fuge d-Moll meistert oder den plötzlichen Einbruch von Zweiunddreißigstelnoten in Praeludium C-Dur plausibel erscheinen lässt oder das grazile Wesen der Fuge C-Dur artikuliert. Oder: Der den tiefen Trauerton des Praeludium h-Moll trifft und andererseits das völlige Schweben, das sich von allem Irdischen zu lösen scheint, einer Orgel zu entlocken vermag.
Mit Worten wie diesen möchte ich niemanden entmutigen, sondern ich möchte im Gegenteil dafür werben, genau diese Stücke zu studieren, weil ich meine, dass sich hier, ähnlich wie bei den Sechs Trios op. 47, ein Schlüssel auffinden lässt, der unmittelbar zu Reger führen kann: Es gilt, die wundervolle innere Welt Max Regers zu entdecken als etwas, das an den Jungbrunnen jeder Art von Romantik erinnert:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort.
Und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.
Auf das Für-sich-selbst-Entdecken kann sodann folgen, dieses Opus oder Teile daraus als kompositorische Goldstücke in ihrer ganzen Feinheit und Reinheit einzubringen in unsere Orgelkultur.