Reger op. 40,1, 40,2

19.06.2023

Die Widmungsträger des Paares der Choralfantasien Opus 40, die sich der damals 26jährige Reger hochachtungsvollst erkoren hat, sind Friedrich Spitta und Paul Gerhardt.

Doch in Opus 40, 1 über Wie schön leucht’ uns der Morgenstern ist einmal mehr J. S. Bach der Spiritus rector dieses Minneliedes an Christus, den Morgenstern und den Seelenbräutigam.

Die Liste der b-a-c-h-Anspielungen kann exemplarisch wie folgt belegt werden:

T. 1 Dis-E-Cis-D,
T. 4 D-Es-C-Des,
T. 5 E-F-D-Es,
T. 8 a-b-g-as (Triller),
T. 18 h-c′-a-b (leucht’ uns der),
T. 24 des′-c′ … es′-d′ (Davids aus Jakobs Stamm),
T. 28 e′-f′-d′-es ([hast] mir mein [Herz besessen]),
T. 31/32 e-f-d-es (freundlich, schön),
T. 36 e-f-d-es (prächtig er[haben]),
T. 37/38 H-c … A-B ([erhab]ben; folgt Zwischenspiel),
T. 42/43 h-c′ … a-b (und Marien Sohn),
T. 48/49 H-c-A-B (Evangelium),
T. 78 A-B … G-As (Flamme dei[ner Liebe]),
T. 83 h′-c′′-a′-b′ ewiglich,
T. 96 h′-c′′-a′-b′ ([Von Gott] kommt mir ein [Freudenschein]),
T. 106 e′-f′-d′-es′ ([sehr hoch in] ihm erfreut]).

Der Übergang zur Fuge führt noch einmal in das nachtschwarze Todesdunkel der Tonart es-Moll, durch die auch der Beginn sowie das erste Pianissimo der »Morgenstern-Fantasie« bestimmt ist. Der Takt vor Beginn der Fuge lässt den Ton es der Tonart es-Moll fortschreiten zu e und f. Im Themenkopf der Fuge wird der Schritt e-f dann aufgelöst durch den Schritt d-es.

Meine Deutung: Zwischen e-f und d-es liegt auf formaler Ebene der Schnitt von Fantasie zu Fuge. Auf semantischer Ebene entspricht dies der Metapher Durch Nacht zum Licht [per aspera ad astra] und von den Sternen (astra) kündet der Morgenstern als derjenige unter den Sternen, der als letzter noch leuchtet, während in der Morgendämmerung kein anderer Stern mehr sichtbar ist. Das kosmische Symbol des Morgensterns führt gedanklich zum kosmischen Christus – und in meiner Sicht auf Reger folgere ich nun, dass die Fortschreitung e-f-d-es, indem sie zugleich zu b-a-c-h korreliert, das Moment der Offenbarung berührt: In Christus offenbart sich Gottes Geist und ebenso in Bachs Musik.

Karl Straube übte Kritik an Regers Erstfassung von Op. 40, 1, was Reger zu einer grundsätzlichen Überarbeitung der Strophen 3 und 4 bewog, wie sie dann im Druck erschien.

Im Schwesterwerk Opus 40, 2 Straf mich nicht in deinem Zorn gelangt man im Pianissimo des Taktes 1 von e-Moll nach es-Moll. Gellende Akkordfolgen schließen sich in Takt 2 an und zeichnen im Sinne der sinfonischen Dichtung Franz Liszt’s das Szenario der Apokalypse. Innerhalb von Regers sieben Choralphantasien, die sämtlich in Dur stehen (D / F / Es / E / Des / E / G) ist dies die mittlere:

Op. 27

Ein feste Burg

Not des Menschen und Halt in Gott

Op. 30

Freu dich sehr, o meine Seele

Todesnot und Sterben in Gottes Hand

Op. 40, 1

Wie schön leucht‘ uns

Christus, das Licht der Welt

Op. 40, 2

Straf mich nicht

Herr, sei mir Sünder gnädig

Op. 52, 1

Alle Menschen müssen sterben

Tod als Übertritt in die himmlische Herrlichkeit

Op. 52, 2

Wachet auf! ruft uns die Stimme

Die Wiederkunft Christi am jüngsten Tag

Op. 52, 3

Halleluja! Gott zu loben

Freude über Gott, den Schöpfer und Christus, den Erlöser (siehe Ps. 146)

Noch ein Blick auf den Strukturalisten Reger:

Die ersten Choralzeilen wie auch die Schlusszeile des Liedes Straf mich nicht in deinem Zorn reihen melodisch Dreitonschritte aneinander (gis-a-h / e-fis-gis / cis-dis-e / gis-fis-e). In den acht Takten der Introduktion werden daraus abwärts, dann aufwärts gerichtete chromatische Dreitonfiguren als intervallische Diminution sowie im Bass der Takte 7 und 8 ein viermaliger Dreischritt B-des-e als intervallische Augmentation. Dann gehen daraus ab Takt 9 gleichsam als ›Mitte‹ die diatonischen Dreitonelemente des Liedes hervor.

Op. 40, 1 Fantasie und Fuge über den Choral Wie schön leucht’ uns der Morgenstern (Erbendorf, September 1899)
Ladegast, Schwerin 1871

Op. 40, 2 Fantasie über den Choral Straf’ mich nicht in deinem Zorn (Weiden, September 1899)
Schubert, Marienberg 1879