Zu Regers Phantasie über den Choral ›Ein feste Burg ist unser Gott‹ op. 27 und Phantasie und Fuge c-Moll op. 29
19.04.2023
Mit Opus 27 Ein feste Burg ist unser Gott beginnt, mit Opus 59 Zwölf Stücke für Orgel endet Regers Schaffensphase in Weiden 1898 bis 1901. Opus 27 ist zugleich die erste der sieben Choralphantasien (siehe Op. 30, 40, 1 und 2 sowie Op. 52, 1–3).
Das Werk steht in D-Dur; der erste Akkordschlag erklingt als Wendung C-Dur – D-Dur; die majestätisch-homophonen Choralabschnitte im Fortissimo setzt Reger nach B-Dur. Den Bezug D-C-B sehe ich in Regers fünfter Choralphantasie Alle Menschen müssen sterben in deren erstem Pianissimo-Abschnitt als fis-Moll – e-Moll – d-Moll wiederkehren. Diese Progression weitet sich dort unmittelbar vor Eintritt des ersten Cantus firmus zum Zirkel
fis-e-d-e-fis.
Dieses Gebilde wird dann transponiert zur Progression e-d-c-d-e als pppp-Eröffnung der sechsten Choralphantasie Wachet auf! ruft uns die Stimme. Dieses Gebilde wird dann im weiteren Verlauf vielfältig variiert und beherrscht in leuchtendem Fortissimo den Abschluss der sechsten und den Beginn der siebten Choralphantasie: Halleluja! Gott zu loben bleibe meine Seelenfreud’.
Gehe ich zu weit, wenn ich in
fis-e-d-e-fis
oder
e-d-c-d-e
einen Gleichklang mit dem Namen
r e g e r
erkenne?
Und gehe ich zu weit, wenn ich, ausgehend von der Symmetrie der
Stücke 1 bis 5 und der Stücke 8 bis 12
in Regers Opus 59 als dem letzten Weidener Opus
r e g e r Fuge D-Dur Kyrie eleison r e g e r
erkenne?
Zurück zu Opus 27: Man kann anhand des Beginns in D-Dur, der Choralauftritte in B-Dur und wichtigen Zäsuren im letzten Abschnitt in Fis-Dur sogar eine intervallische Augmentation von D-C-B in D-B-Fis erkennen, jedoch auch die Tritonusbeziehung C – Fis, denn der erste Akkord erklingt als C-Dur und in der Schlussstrophe erklingen wichtige Markierungen in Fis-Dur. Daraus ergibt sich dann ein universeller Dreischritt aus
ein mal – zwei mal – drei mal
Ganzton
als
D-C-B, D-B-Fis und C-Fis.
Dem C-Dur kommt dabei die Semantik des Licht-Topos zu.
C-Dur und die Progression C-B-As erklingt dort, wo unmittelbar anschließend die Text-Confutatio Und wenn die Welt voll Teufel wär Teil dieser Choralphantasie wird. Die Tonart C-Dur steht aber dann auch als Climax einer langen Aszendens-Bewegung dort, wo das Wort fällen im Zusammenhang mit folgenden Choralzeilen einhergeht: Der Fürst dieser Welt, wie sau’r er sich stellt, tut er uns doch nicht, das macht er ist gericht, ein Wörtlein kann ihn fällen. Genau hier erklingt C-Dur – wie zur Eröffnung der gesamten Phantasie als erster Tuttiklang und wie zu Beginn der Confutatio Und wenn die Welt voll Teufel wär – und somit hat die Confutatio nunmehr ein Ende, sodass nun anhand der Strophe 4 die Affirmatio als Quasi-Reprise von Strophe 1 anheben kann: Das Wort sie sollen lassen stan.
Reger wollte in seinem Schaffen die v o r Opus 27 liegenden Werke als nicht gut genug erachten, doch zuweilen muss man die Werke vor ihren Komponisten schützen.
Ich sehe die vier Opera 27, 29, 30 und 33 durch einen musikalischen Gedanken überwölbt:
In Opus 27 steht die Melodiezeile
d‘ d‘ d‘ a h cis‘ für »Ein feste Burg ist [unser Gott]«;
in Opus 30 Freu dich sehr, o meine Seele sagt der erste Piano-Abschnitt als Fugato:
a‘ a‘ a‘ d e f [Comes zu d‘ d‘ d‘ a h cis‘];
in Opus 29 Phantasie und Fuge c-Moll lautet der Fugenbeginn
c-d-es-c-g; er stellt eine Permutation zum Fugato in op. 30 dar;
in Opus 33 Erste Sonate fis-Moll lautet das erste Piano in Satz 1
fis-eis-d-a [Krebs zu a‘ a‘ a‘ d e f]; Satz 3 Passacaglia beginn mit
cis-fis-e-d [Umkehrung zu d‘ d‘ d‘ a h cis‘].
Eine weitere Gemeinsamkeit dieser vier Werke op. 27, 29, 30, 33 und darüber hinaus auch von Regers zwei Choralphantasien op. 40, 1 und 2 ist der schroffe Wechsel zwischen fff und ppp oder ppp und fff, was sich jedoch bereits in der Introduktion von Regers ›Erster Suite e-Moll‹ op. 16 klar manifestiert. In späteren Werken ab op. 46 macht Reger dann weniger Gebrauch von derart schroffen Kontrastmomenten, sondern gibt der Übergangsdynamik mehr und mehr Raum.
Karl Straube beruft sich in seiner Ausgabe von Reger’s op. 27 auf seine Wiedergabe dieses Werkes im Münster zu Basel 1903 bei der deutsch-schweizerischen Tonkünstlerversammlung in Anwesenheit Regers. Straube schreibt im Vorwort seiner Ausgabe von 1938 (Ed. Peters): »Die Neuausgabe will einen Nachweis dafür erbringen, wie Regers Schaffen für die Orgel darstellbar sein kann auf einem Instrument, das der Überlieferung aus der klassischen Zeit des Orgelbaues angehört, das aber keinerlei Eignung besitzt für ein Nachbilden von Klängen, entnommen dem Orchester der musikalischen Romantik und beeinflusst durch die Fülle der dynamischen Möglichkeiten, die diesem Klangkörper innerwohnen. Um das gesetzte Ziel zu erreichen, mussten die von dem Komponisten eingezeichneten ineinander übergehenden Veränderungen in der Tonstärke durch eine in Gegensätzen sich auswirkende Terassendynamik umgedeutet werden. Solche Vereinfachung gibt dem Formenbau der Phantasie stärkere Fügung und der erzielte Gesamteindruck – schlicht und in sich geschlossen – lässt die inneren Beziehungen der Regerschen Kunst zu dem Schaffen der Meister aus den vergangenen großen Zeiten der deutschen Orgelkunst offenbar werden«.
Ich sage dazu folgendes: Sooft ich in meiner Jugend oder als Student Reger’s op. 27 hörte oder selbst spielte, überzeugte mich das immerwährende Hin-Her, das dieser Phantasie innerwohnt, zunächst gar nicht, da ich es als ›schwarz-weiß‹ empfand. Erst als ich dann Regers Erstdruck in Händen hatte, konnte ich diesem die Anweisung »Posaune 16′, Trompete 8′ für den Cantus firmus entnehmen und als klangfarbliche Brücke zu den Tuttiblöcken verstehen. Wenn dann das ›Piano‹ eintritt, so erkennt man in Regers Übergangsdynamik und Übergangsagogik erneut das Moment der Vermittlung, während Straube die blockhafte Gegenüberstellung vorschwebt. Eben diese blockhafte und neobarocke Darstellung hat mich nie überzeugt. Als ich dann endlich den originalen Regertext vor mir hatte, lösten sich diese Problematiken. In meiner Interpretation folge ich bewußt nicht Straube, sondern Reger, auch wenn Straube beteuert: „Seine [Reger’s] Zustimmung zu dieser Auslegung der Vortragsangaben und zu den wenigen Änderungen in der Fassung des Notentextes hat er nicht nur wiederholt im Gespräch, vielmehr dokumentarisch niedergelegt durch die Widmung der fis Moll-Variationen über ein eigenes Thema (op. 73) an den damaligen Interpreten seines Opus 27.«
Auch hier kann ich mich des Kommentars nicht enthalten: Müsste man demnach nicht etwa vermuten, dass sich Reger nun erneut in seinem Opus 73 einer ›blockhaften‹ dynamischen Reduktion und einem Bekenntnis zum Neobarock zuwendet? Das genaue Gegenteil ist in Opus 73 der Fall!
Ich füge noch ein weiteres Argument an, um auf die innere Widersprüchlichkeit des ›Straube dixit‹ hinzuweisen: Straube und Reger geben eine ›Schule des Triospiels‹ heraus. Als Vorlage dienen Bachs ›Zweistimmige Inventionen‹. Dabei unternimmt Reger zwei Dinge: Zum einen fügt er Bachs zweistimmigem Satz jeweils eine dritte Stimme hinzu; zum andern arbeitet er eine subtile Dynamik aus, die nicht im Geringsten dem Prinzip der Terassendynamik entspricht. Was nun, Herr Straube?
Oder sollte nun das Wort ›crescendo‹ jeweils mit accelerando und das Wort ›diminuendo‹ mit ritardando übersetzt werden? Aber eine derartige Agogik scheidet ja in jedem Falle aus. Aus dem Munde des Straube-Schülers Michael Schneider weiß ich: »Man muß Reger helfen! Er konnte sich einfach nicht richtig ausdrücken« – ach tatsächlich?
Mit Opus 29 Phantasie und Fuge c-Moll knüpft Reger an Bach’s gleichnamiges Werk in g-Moll an. Bei Reger werden später in diesem Genre seine Opera 46 (über B-A-C-H), 57 (Symphonische Phantasie und Fuge) und 135b zu seinen wichtigsten Werken zählen.
Gehe ich zu weit, wenn ich zu dem, was in Opus 27 die Achse C-Dur – Fis-Dur ist, nun in Opus 29 und 33 anhand von deren Tonarten c-Moll und fis-Moll ein Pedant erkennen möchte? In welche Dunkelheit verkehrt sich dann das Licht von C-Dur und Fis-Dur? Ich meine, dass es sich in das Todesdunkel verkehrt – getreu den Worten des Psalmisten: Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir (Ps. 23, 4) oder
Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein – , so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht (Ps. 139, 11 und 12) oder getreu den folgenden Worten Max Regers: Wissen Sie denn nicht, wie sich durch alle meine Sachen der Choral zieht: Wenn ich einmal soll scheiden?
Dieses Motto bestimmt dann den Beginn des letzten Stückes, das im Radius der Opera 27, 29, 30 und 33 steht: Die Passacaglia fis-Moll. Deren Beginn lautet:
cis fis e d
Wenn ich ein-mal [soll scheiden]
in Rückbezug zur Umkehrung als
d d d a h cis
Ein fes-te Burg - ist [unser Gott]