Choräle von Johann Sebastian Bach aus der Neumeister-Sammlung – Christoph Bossert an der rekonstruierten Wiegleb-Orgel (1739) in der ehem. Hofkirche der Markgrafen zu Brandenburg-Ansbach zu Ansbach, St. Gumbertus
19.05.2023
Die »Choräle von Johann Sebastian Bach aus der Neumeister-Sammlung« – so der wissenschaftliche Titel – nennt Christoph Bossert »36 Choräle« – warum?
Die einzige hierzu überlieferte Quelle ist ein Sammelband, den Johann Gottfried Neumeister sich um 1790 als ein privates Choralkompendium unterschiedlichster Barockkomponisten in 82 Stücken anlegte, wobei darunter der Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert anhand von 25 Choralvorspielen Joh. Michael Bachs und von 38 Choralvorspielen des sehr jungen Joh. Seb. Bach den größten Anteil bilden. Joh. Michael Bach war der Schwiegervater von Joh. Seb. Bach.
Zwei der 38 besagten Choralvorspiele sind eindeutig dem Orgelbüchlein zuzuordnen, 36 weitere können als »36 Choräle« zusammengestellt werden, wenn man diejenigen, die Neumeister Joh. Seb. Bach zugewiesen hat, Titel für Titel Neumeisters Choralkompendium in der von ihm gewählten Reihenfolge entnimmt und dabei die anderen, die Neumeister dazwischen stellte, überspringt.
Dass man anhand dieses Extraktes ziemlich sicher sein kann, dass man nunmehr Bachs frühestes Choralkompendium vor sich hat, begründet sich aus der stilistischen Nähe zum ausgehenden 17. Jahrhundert. Das Orgelbüchlein zeigt demgegenüber eine andere Stilistik, die einen späteren Schaffenszeitraum erkennen lässt, vermutlich Weimar. Die Anzahl von 36 Stücken begründet sich nach Christoph Bossert anhand folgender Indizien:
Indiz 1: Nachweis einer immanenten Symmetrie aller 36 Choräle mit Spiegelachse zwischen Choral 18 und 19;
Indiz 2: Ordnung aus viermal je neun Stücken in der inhaltlichen Bestimmung 1 Krippe und Kreuz, 2 Katechismus, 3 mein persönlicher Glaube (Applicatio), 4 Tod und Ewigkeit;
Indiz 3: Zugleich kann auch eine Ordnung in dreimal je zwölf Stücken nachvollzogen werden, da allein das dreizehnte Stück eine freie Einleitung aufweist und sich deren Hermeneutik dadurch erschließt, dass ihr Diskant-Beginn im symmetrischen Gegenstück Nr. 24 der Choralzeile »Dass sich ein jeder erkennen tu« entspricht.
Indiz 4: Auf dieser strukturellen Grundlage lassen sich zwei weitere Begründungsebenen anfügen:
a Die beiden letzten Choralvorspiele tragen die Titel Wie nach einer Wasserquelle und Christ, der du bist der helle Tag. Die Topoi Quelle und der helle Tag führen zu den Topoi Quelle und Licht und somit zu Ps. 36: Denn bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht.
b Die Zahl 36 wird Signum perfectionis genannt, da sie als 36 = 6×6 aus dem ersten numerus perfectus hervorgeht, denn es gilt: 6 = 1+2+3 = 1×2×3. Augustinus verweist in diesem Zusammenhang auf die Heiligkeit dieser Zahl als dem sechsten Tag der Schöpfung als Tag der Erschaffung des Menschen.
Vor etwa 15 Jahren lehnte die Fachzeitschrift Musik und Kirche das Ersuchen von Christoph Bossert ab, dort in einem Artikel über seine Entdeckung der Symmetrie der 36 Choräle und der Zuordnung zu Psalm 36 zu berichten. Begründung: Hier liegt ein Zirkelschluss vor, daher keine Veröffentlichung bei MuK.
Sehen Sie dazu auf dieser Homepage unter »Hermeneutik zu J. S. Bach« das vierteilige Lehrvideo »Die Choräle der Neumeister-Sammlung«.
Christoph Bossert spielt die 36 Choräle von Johann Sebastian Bach an der rekonstruierten Wiegleb-Orgel (1739) in der ehem. Hofkirche der Markgrafen zu Brandenburg-Ansbach zu Ansbach, St. Gumbertus, ein.
Ton: Klaus Faika (Produktion 2009)
Finalisierung: Erik Konietzko
Schnitt: Alexander Hainz
Ein Orgel-Lehrvideo zu dieser Orgel ist bereits produziert und wird demnächst finalisiert.