op. 65 – Ein Walcker-Portrait im Rahmen der Gesamteinspielung des Reger Orgelwerkes
19.08.2024
Wo steht Reger mit seinem Opus 65, wenn er seit 1901 in München wirkt, und sein erstes dort komponiertes Orgel-Opus die ›Zweite Sonate d-Moll‹ op. 60 ist?
Die Schaffensphase des steten Wechsels zwischen Choralphantasie und großen freien Orgelwerken hat die Weidener Zeit von 1898 bis 1901 bestimmt und ab Opus 59 als dem letzten in Weiden komponierten Werk gilt die Aufmerksamkeit eher Stücken kleineren Umfangs. Nach mehrteiligen Anlagen in Opus 59 mit 12 Stücken in symmetrischer Konzeption sowie den Opera 60 als zweite Orgelsonate und op. 63 als den zwölf Monologen schreibt er erneut ausladende zwölf Stücke. Nachdem Opus 63 dreimal eine Vierteiligkeit präsentiert, gilt nun im Frühjahr 1902 sein Interesse einer viermaligen Dreiteiligkeit – jedenfalls ist dies mein Empfinden.
Meine Abstraktion dazu lautet in einer Unterscheidung von Ferne (b) und Nähe (a):
Erste Dreiheit: b wird a; es folgt a; es folgt b
Zweite Dreiheit: b eröffnet, doch a bricht ein; es folgt a; b wird a
Dritte Dreiheit: b eröffnet, doch a dominiert; b wird am Ende ein brachiales a; es folgt b
Vierte Dreiheit: a dominiert; a dominiert; b wird a.
In Opus 65 tut sich ein wahres Kaleidoskop der Wahrnehmungen auf. Ich habe den Eindruck, dass genau dies, nämlich die Nichtvorhersehbarkeit an Charakteren und zugleich das Versammeln unterschiedlichster Typisierungen und Charakterisierungen ihn offenbar gereizt hat. Was könnte mir dabei Recht geben?
Die Titel der ersten beiden Stücke lauten ›Rhapsodie‹ und ›Capricco‹ und künden jeweils etwas Überraschendes an.
Also folge ich nun dem Pfad der Überraschungen.
Nr. 1 Rhapsodie: Das anfängliche Pianissimo zeigt den Topos der Dunkelheit als Umkehrung des ›Jupiter-Topos‹ und mündet in eine Frage. Dieses wird nun melodisch zum Thema, doch die Dynamik und der Gesamtgestus zeigt nun mit einem Mal in völligem Kontrast zum Anfang größte Erregung. Finsternis und Erschütterung machen sich breit. Dazu kontrastiert gemäß einer für Reger oft gebrauchten A-B-A-Form der entrückte Mittelteil.
Nr. 2 Capriccio: Die absteigende Chromatik des Rhapsodie-Beginns prägt auch den Beginn des zweiten Stückes; und doch könnte der Gestus gegenüber dem Beginn des ersten Stückes kaum entgegengesetzter sein. Und wer kann ahnen, dass das Stück in G-Dur erklingt? Einzig zwei kurze Schlussmomente erklingen in G-Dur – und damit werden diese beiden Schlüsse zur Überraschung, während man sich im allerersten Beginn nach Cis-Dur verwiesen sieht. Cis-Dur und G-Dur zeigen den Tritonus-Abstand, also den weitesten denkbaren Abstand zweier Tonarten.
So also arbeitet Reger nun immer wieder neue Dialektiken aus und inszeniert sie meisterhaft.
Also folge ich nun dem Pfad der Dialektiken.
Nr. 3 Pastorale: Wer ein Wiegenlied zur Geburt Jesu erwartet, darf sich überrascht sehen durch die Charakterangabe Allegretto (Vivace).
Nr. 4 Consolation: Nachdem die Tonart E-Dur – es ist gleichsam die Mitte zwischen Cis-Dur und G-Dur – im Mittelteil der Rhapsodie, die in cis-Moll steht, ihr mystisches Leuchten verbreitet hat und der Beginn des Mittelteils im Capriccio es ihm gleich tut, wird E-Dur nun in diesem vierten Stück zur Grundtonart. Unmissverständlich spricht Reger damit seine Hommage an Franz Liszt aus. Consolation meint: Gebet.
Also folge ich nun dem Pfad des Gebetes.
Die biblischen Psalmen sind 150 Gebete. Alle existenzielle Erfahrung, alles Leiden, alle Freude, alle Erschütterung, alles, was die Seele zu überwältigen vermag, alles Bangen, Suchen und Hoffen findet dort seinen Ort. Also wird man genau dem Allem in Regers Opus 65 nun begegnen. Doch allzu platt würde es mich anmuteten, wenn ich nun derartige Zuweisungen an diese Stücke konkret herantragen wollte.
Doch Eines sollte man festhalten: Unter den Stücken 1 bis 6 bilden die Stücke 3 und 4 als Pastorale und Consolation eine geistliche Einheit: A-Dur vs. E-Dur, 6/8 vs. 6/4, tänzerisch anmutig und beschwingt vs. andächtig innehaltend. Jedes der beiden Stücke zeigt auch – gemäß der Form A-B-A – dunkle und erregte Seiten. Und wenn die Stücke 1, 2 vs. 3, 4 vs. 5, 6 dann eine A-B-A-Form im ganz Großen zeigen, dann deuten die Stücke 3 und 4 als ein ›B-Teil im ganz Großen‹ auf die innere Mitte: Die Andacht. Diese Art der Anbetung gilt dem Kind in der Krippe und dem Weg, den der Retter der Welt bis ans Kreuz gegangen ist.
Was zeigen dem gegenüber die Stücke 7 bis 12?
Dem formalen Aspekt einer A-B-A-Form im ganz Großen kann ich auch hier sehr wohl etwas abgewinnen: Die Stücke 7, 8 und 11, 12 lauten Praeludium d-Moll und Fuge D-Dur vs. Toccata e-Moll und Fuge E-Dur. Und Teil B? Canzone Es-Dur und Scherzo d-Moll finden sich dort. Mehr Kontrast ist kaum denkbar. Und doch formulieren beide Stücke jeweils einen 3/4-Takt. Damit wird das Geschehen in Großteil B der Stücke 1 bis 6 unmittelbar vergleichbar, denn dort erklingt ein 6/8-Takt in der Pastorale und ein 6/4-Takt in der Consolation.
Werden die Stücke 3 und 4 mit den Stücken 9 und 10 somit tatsächlich vergleichbar? Ich meine: Ja! Sehr gerne hat Reger den Typus des Scherzo dazu genutzt – man denke an Opus 59 und die Symmetrie zwischen Nr. 3 Intermezzo a-Moll und Nr. 10 Capriccio als Prestissimo assai – den wiegenden Rhythmus oder gar einen Choral in all dem musikalischen Taumel aufleuchten zu lassen. Damit komme ich zu folgendem Schluss:
Erfahrungen mit dem Taumel und den Irrlichtern dieser Welt lassen Reger Zug um Zug erproben, was dann in Opus 73 zum Konzept schlechthin wird und das ich ›Inszenierte Desorientierung‹ nenne. Hierfür steht in Opus 65 das Stück 10 ›Scherzo d-Moll‹ an drittletzter Stelle. Je sechs Achtel erklingen pro Takt. Auch im dritten Stück erklingen sechs Achtel, nur sind diese im Stück 3 ›Pastorale A-Dur‹ ganz anders motiviert.
Also folge ich wieder Regers Dialektiken.
Drittes vs. Drittletztes Stück wird nun zur eigentlichen Zuspitzung dieser Dialektik: Das Kind in der Krippe, umgeben von der Anmut der himmlischen Heerscharen im völligen Kontrast zum Taumel der Welt – zu Jesu Geburt wie zu Regers Zeit wie heute!
Heißt es dann auch: Viertes vs. viertletztes Stück in maximalem Kontrastverhältnis? Mitnichten! Es heißt hier in beiden Stücken gleichermaßen: Ich bleibe andächtig stehen, um einerseits einem inneren Widerhall all dessen zu begegnen, um aber andererseits meiner eigenen inneren Verortung gewiss zu werden.
Ein Letztes in Sachen Dialektik und Reger:
Kammermusikalische Idiome lässt Reger zuweilen aufleuchten, sei es das Violoncello solo zu Beginn von Nr. 5 ›Improvisation a-Moll‹ oder das Flötenspiel in Nr. 7 ›Praeludium d-Moll‹, um sie alsbald auf die eine oder andere Art zu brechen. Im Falle von Stück 5 begegnet man in mitten des Wühlens zuweilen einem Pianissimo-Hauch; in Stück 7 kontrastiert Reger die Leichtigkeit eines Concerto-Grosso-Beginns mit einer Choral-Attitüde in Maestoso-Manier. In weiten Teilen von Stück 8 ›Fuge D-Dur‹ assoziiert man Bachs ersten Satz des ersten Brandenburgischen Konzerts – doch welches Ende bereitet Reger dann diesem Stück! In dem Moment, in dem der Bass die Banalität der Bassklausel A-D ausspricht, sagt Reger gleichsam ›a Dieu‹, als würde die Welt untergehen.
Dann folgt – wieder völlig unvorbereitet – innere Einkehr in Stück 9 ›Canzone Es-Dur‹ und Taumel in Stück 10 ›Scherzo d-Moll‹.
Wem könnte es gelingen, nach derart vielen Kontrastierungen einen überzeugenden Schluss zu formulieren? Ich meine, dass sich genau hierin, indem dies gelingt, Regers kompositorische Meisterschaft in absolut gültiger Weise zu Tage liegt: Die Wahl der Tonarten e-Moll und E-Dur ist in meinen Augen eine sehr überzeugende kompositorische Entscheidung, denn es ergeben sich nun veritable Brücken.
Mit dem E-Dur des zwölften Stückes ergibt sich die Brücke zum cis-Moll des ersten Stückes des ersten Viertels;
mit e-Moll des zweitletzten Stückes ergibt sich die Brücke zum E-Dur am Beginn des zweiten Viertels;
mit d-Moll des drittletzten Stückes als Stück 10 ›Scherzo d-Moll‹ ergibt sich die Brücke zum Beginn des dritten Viertels Stück 7 ›Praeludium d-Moll‹.
Um nun weitere Brücken zu bauen, lässt Reger das Stück 11 ›Toccata e-Moll‹ leicht fragend beginnen, was insbesondere den Beginn des allerersten Stückes prägt; auch zum ersten Stück, das die zweite Werkhälfte eröffnet, ergeben sich anhand von Tempo, Taktart, Moll-Tonart und Attitüden konzertanter Leichtigkeit vs. Maestoso-Gestus klare Brückenschläge.
Die letztlich bestimmende Brücke – und hieran zeigt sich Regers meisterhafte konzeptionelle Kraft – ist erneut der Dialektik geschuldet, denn nun vermag er es, nach den immerwährenden Zerklüftungen der bisherigen Verläufe in Fuge E-Dur Zug um Zug ein Kontinuum wachsender Kräfte zu inszenieren. Und ich scheue mich nicht, hierin gewissermaßen nach elf Stücken eine kompositorische Antwort auf die Fragefigur zu erkennen, wie sie den Zyklus als Ganzes in den ersten Takten der Rhapsodie bestimmt. Somit kann man nun auf Rückbezüge zum Beginn des dritten, des zweiten und des ersten Viertels aller zwölf Stücke schließen: Toccata e-Moll lässt sich, wie schon festgestellt, auf den Beginn des dritten Viertels zurückbeziehen. Das Momentum des Rückbezugs verstärkt sich nun weiter, indem anhand der Tonart E-Dur des letzten Stückes eine unmissverständliche Brücke zur Eröffnung des zweiten Viertels anhand der Consolation E-Dur geschaffen ist und zugleich das cis-Moll des Stückes, das das erste Viertel eröffnet, anhand der Paralleltonart E-Dur gleichsam seine weiterführende und lösende Antwort erfährt.
Zugleich vernehmen wir im Thema dieser Schlussfuge in E-Dur anhand der Töne e, fis, a und gis das Thema von Bachs Fuga E-Dur des Wohltemperierten Klavier, Teil II, und zugleich bezieht sich Reger wie in vielen anderen seiner Orgelwerke ab seiner B-a-c-h-Phantasie op. 46 auf Mozarts Thema des Finalsatzes seiner ›Jupitersinfonie‹. Auch an den Duktus der großen Schlussfuge von Bachs Drittem Teil der ClavierÜbung darf man sich hier erinnert sehen. Daraus kann man insbesondere folgern, dass dies zu den Tönen des allerersten Beginns der Rhapsodie cis-Moll als der im Pianissimo präsentierten Tonfolge cis′′-his′-gis′-ais′-h′-ais′-fis′-gis′-a′ einerseits die melodische Umkehrung darstellt und dass dies andererseits zu diesem Beginn nun in Gestalt des Pianissimo-Beginns des Schlussstückes hierzu das genaue Pedant darstellt. Dies bedeutet Kontrast und genaue Übereinstimmung in Gleichzeitigkeit, das erste und das letzte Stück, also Anfang und Ende des Zyklus in seinem jeweiligen Beginn betreffend.
Aber nun folgt noch eine weitere dialektische Umkehr: Kontrastiert im ersten Stück das Pianissimo der Takte 1 bis 3 zum Forte ab Takt 4 im Sinne einer sehr schroff formulierten These und Antithese, so erfolgt nun gleichsam anhand der Vermittlung zwischen diesen Gegensätzen in der Schlussfuge das kontinuierliche Crescendo. Demnach ist diese sehr typische Idee der spätromantischen Steigerungsfuge hier keinesfalls ein billiges Klischee, sondern es bedeutet die meisterliche Konsequenz aus all den zuvor inszenierten Dialektiken – bravo, Herr Reger! Wohl dem, der hieran seinen Gefallen findet.