Ripieno
Das Wort ›Ripieno‹ meint zum einen ein Grundphänomen der italienischen Orgel, zum andern das Grundphänomen des italienischen Concerto grosso.
Das Ripieno der klassischen Orgel Italiens der Renaissance- und der Barockzeit versteht sich als Vereinigung der Principalstimmen und insbesondere der höchsten Principalreihen. Indem diese höchsten Registerreihen in Italien auch als Einzelreihen wahlweise verfügbar sind, wobei die höchsten Lagen repetieren, ergibt sich ein gravierender Unterschied zu allen anderen europäischen Stilformen der Orgel, denn im übrigen Europa sind diese höchsten Lagen nur gebündelt als Sammelregister wie Mixtur, Scharf, Cymbal, Fourniture u. ä. verfügbar. In Frankreich wird, alternativ zum Begriff ›Ripieno‹, der Begriff ›Plein jeu‹ und im deutschen Sprachraum der Begriff ›Plenum‹ gebräuchlich. Ein weiteres gravierendes Charakteristikum der höchsten Chöre in Italien ist ihre Feinheit im Unterschied zur eher füllenden Eigenschaft des französischen Plein jeu und der Schärfe der Klangkronen gemäß deutscher Ästhetik. Ein drittes Charakteristikum: Das Ripieno reicht in der Höhe bis fast an die Hörgrenze, während der Plafond des französischen Plein jeu auf Zweifuß hin angelegt ist.
Ausgehend vom Formtyp des italienischen Concerto grosso, der insbesondere mit den Barockmeistern Arcangelo Corelli und Antonio Vivaldi verbunden ist, ist das Wechselspiel zwischen ›Tutti‹ und ›Solo‹ als ›Ripieno‹ vs. ›Concertino‹ stilbildend und bezieht sich formal auf das Wechselspiel zwischen dem von allen Spielern vorgetragenen Ritornello und den nur von wenigen vorgetragenen solistischen Partien. Bei Corelli als dem Schöpfer dieser Form waren die Instrumentalsolisten nicht vor, sondern hinter dem Orchester postiert, sodass damit in der Ursprungsidee des Concerto grosso eher die Wirkung einer Art ›Engelskonzert‹ intendiert war.
An historischen italienischen Orgeln ist hierfür meist ein mechanischer Sammelzug ›Ripieno‹ vorhanden, der alle diesbezüglichen Principalstimmen aktiviert.
Die Auseinandersetzung mit dem Concerto grosso wurde in Bachs Schaffen sehr begünstigt durch die Auslandsaufenthalte des jungen Prinzen Johann Ernst von Sachsen-Weimar in Amsterdam und Venedig. Dies führte im Schaffen von Johann Sebastian Bach und dessen Vetter Johann Gottfried Walther in Weimar zu einer enormen schöpferischen Wirkkraft vom Grundsatz her. Bach, der von 1708 bis 1717 an der Weimarer Hofkirche wirkte, und Walther, der an der Weimarer Stadtkirche war, schufen eine Fülle von Transkriptionen italienischer Concerti grossi für Orgel oder Cembalo. Die Ritornellform wird ferner für den Typus der Sonata, aber auch für die Prélude der Englischen Suiten Bachs bis hin zum Einleitungssatz der ›Französischen Ouverture h-Moll‹ und in zahlreichen freien oder choralgebundenen Orgelwerken Bachs ein zentraler formgebender Aspekt. Doch andererseits bleibt das sog. ›Italienische Konzert F-Dur‹ der ClavierÜbung II Bachs einzige originäre Komposition eines Concerto grosso.