Andacht in der Musik

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Johann Sebastian Bach erlebte in seiner Schulzeit in Ohrdruf zwei Superintendenten, Vater Melchior und Sohn Johann Abraham Kromayer (1665–1733). Dieser begann seine Amtszeit 1696 nach dem Tod seines Vaters. Im Jahre 1697 schrieb J. A. Kromayer anlässlich der Neubesetzung der Kantoratsstelle als Begründung pro Aufnahme von Elias Herda, »seine Music ist andächtig und dem Gottesdienst ganz gemäß«2. Johann Sebastian Bach notierte später als Randbemerkung in seine Calov-Bibel: »NB. Beÿ einer andächtig[en] Musiq[ue] ist allezeit Gott mit seiner Gnaden=Gegenvart«3. Beide Aussagen entsprechen sich in der Wahl des Wortes ›andächtig‹ als adäquate Handlungweise eines musizierenden Menschen gegenüber Gott. Bei Bachs Formulierung ist zu bemerken, dass er das Wort ›andächtig‹ in Verbindung mit ›allezeit‹ verwendet. Da er den Begriff ›Musik‹ nicht weiter spezifiziert, kann gefolgert werden, dass laut Bach jegliche Musik, sofern sie [für ihn] andächtig ist, die Gnadengegenwart Gottes mit sich bringt, welches Bach 1738 noch konkretisiert.4

Das christliche Leben zur Zeit Bachs war – wie aus Transliterationen von Dokumenten aus dem Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein zu entnehmen – geprägt von täglichen häuslichen Andachten, die auch die hohenlohischen Grafen als Obrigkeit von Ohrdruf – ihren Lebensbeschreibungen in den Trauerdruckschriften zufolge – regelmäßig mit ihrem Personal abhielten. Ebenso wurde der Schulunterricht mit dem morgendlichen Singen geistlicher Lieder eingeleitet, es war folglich üblich, den Tag ›andächtig‹ zu beginnen. Bereits die fortwährenden Wiederholungen der Liedmelodien durch jeweils neue Strophen führen zum Meditieren und Textverwandtschaft zwischen einzelnen Strophen der bewusst in einen Zusammenhang gestellten Kirchenlieder führen zum Reflektieren. Hieraus kann Andacht entstehen.

Kann aber diese, für wortgebundene Musik in Anspruch genommene Gestaltungsweise, auch für untextierte Musik gelten? Bach postuliert in Kap. 2 seiner 1738 verfassten Anleitung zum Generalbassspiel – Von der Definition, der Generalbass solle auch

»wie aller Music […] Finis und Endursache anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüthes seyn. Wo dieses nicht in acht genommen wird, da ists keine eigentliche Music sondern teuflisches Geplerr und Geleyer.« (S. 3)

Nach diesen Worten Bachs zu urteilen, soll alle Musik nur zu ›Gottes Ehre und Recreation des Gemüthes‹ gereichen, und ›alle Musik‹ umfasst folglich vokale wie instrumentale, textierte wie untextierte Musik, mit oder ohne Textassoziationen. Demnach wären im Bachschen Sinn ebenso Werke wie Das Wohltemperirte Clavier oder die Sei Solo ã Violino senza Basso accompagnato als ›eigentliche Music‹ zu bezeichnen und somit auch in der Lage, Andacht zu vermitteln, um Gottes Gegenwart zu erhalten.

Für Martin Luther waren Wort und Ton untrennbar miteinander verbunden. Er betrachtet Gottes Wort und davon zu singen als eine Einheit und vermerkt in einer Tischrede: »Also hat Gott das Euangelium gepredigt auch durch die Musicam«5. An anderer Stelle führt er dies weiter aus:6

»Darumb haben die heiligen Veter und die Propheten nicht vergebens das wort Gottes in mancherley Gesenge, Seitenspiel gebracht, dauon wir denn so mancherley koestliche Gesenge und Psalm haben, welche beide mit worten und auch mit dem gesang und klang die hertzen der Menschen bewegen.«

Hinsichtlich dieser Gesichtspunkte und Bachs Aussage, die Musik solle nur zur Ehre Gottes erklingen, findet man bereits in der Anlage beider Teile des Wohltemperirten Claviers Anzeichen für die Möglichkeit zu meditieren, vermittelt durch die Wiederholungsstruktur in der Anlage der Werke:

1 eine vierundzwanzigmalige Folge von Präludium und Fuge, 2 ein regelmäßiger Wechsel von Dur- und Molltonarten in Kombination mit einem steten Aufstieg durch alle zwölf Grundtöne, 3 aus Sicht der Schriftbildlichkeit lässt sich in der Anordnung des Textes des Vorwortes zu Teil I des Wohltemperirten Claviers eine Kelchform erkennen, ein Symbol für den Kelch des Heils als einer ersten Ebene für Reflexion.7

Gleichzeitig verweist ein weiterer Aspekt auf Bachs Aussage über die ›Finis- und Endursache aller Musik‹. Aufgrund des verwendeten Wortlautes in seinem Vorwort zum ersten Teil des Wohltemperirten Claviers, er habe »Præludia und Fugen […] so wohl tertia majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertia minorem oder Re Mi Fa betreffend« geschrieben, besteht eine offensichtliche Anspielung auf den Titel von Johann Heinrich Buttstetts 1717 in Leipzig erschienenen Schrift UT, MI, SOL, RE, FA, LA, tota Musica et Harmonia Æterna.8 Auf dem inneren Titelblatt setzt Buttstett hinzu, „daß man dereinst im Himmel/ mit eben diesen sonis/ welche hier in der Welt gebräuchlich/ musizieren werde […]« und bezieht sich dadurch in seiner Schrift eindeutig auf Musik zur Ehre Gottes.

In beiden Teilen des Wohltemperirten Claviers sind Assoziationen zu Chorälen omnipräsent, auch wenn die Melodien nicht exakt dem Verlauf der Cantus firmi folgen, in Diminution erklingen und/oder rhythmisch abweichen. Für einen konzentrierten Zuhörer wären die allbekannten, auswendig gelernten Melodien dennoch assoziierbar. Eine Begründung könnte in der Anwendung einer kirchenmusikalischen Praxis liegen, in der es üblich war, Choräle in wortgebundene oder nicht wortgebundene Musik einzuflechten, um Sänger, Spieler oder Hörer für Zusammenhänge zu sensibilisieren.9 Der Begriff ›Andacht‹ war über die täglichen privat abgehaltenen (abzuhaltenden!) Andachten und die hierfür eigens gedruckten ›Andachtsbücher‹ allgegenwärtig.10 Dies zeigt auch der Befund aus Bachs Schulzeit in Ohrdruf bezüglich der übereinstimmenden Ausdrucksweise von Superintendent Johann Abraham Kromayer und Johann Sebastian Bach hinsichtlich des Begriffes ›Andacht‹.

Hinzu kommt, dass ein Kirchenmusiker Bach sehr wohl weiß, welche Melodie er gerade vertont. Dies begünstigt die Plausibilität, dass Bach auch in seinen Instrumentalwerken – wie beispielsweise dem Wohltemperirten Clavier, den Sei Solo sowie weiteren Werken, die nicht in einem wortgebundenen Kontext stehen – das kompositorische Mittel einsetzt, einige Motive und Melodieabschnitte durch die Nähe zu Chorälen assoziativ wirken zu lassen, um durch die hervorgerufenen Imaginationen die Möglichkeit zu Reflexion und Meditation und damit zur Andacht zu geben.

So war die Textgebundenheit von Choralmelodien, in einer Zeit, in der Choräle und geistliche Kirchenlieder das Leben der Menschen Tag für Tag begleiteten – die Vielzahl der Gesang- und Andachtsbücher zeugt davon – und im Gottesdienst in der Gesamtheit ihrer Strophen gesungen und musiziert wurden, omnipräsent. Wort und Klang der Choräle waren im Lutherschen Sinn untrennbar miteinander verbunden und infolgedessen die Choralmelodien auch ohne Textunterlegung semantisch aufgeladen.

Andrea Dubrauszky, 2024

1Auszug aus der Publikation von Andrea Dubrauszky, Johann Sebastian Bachs Ohrdrufer Schulzeit (1695 – 1700) in Dokumenten des Hohenlohe-Zentralarchivs Neuenstein. Verlag J. H. Röll GmbH, Dettelbach 2024, S. 115, 313–319.

2Dubrauszky 2024 ebd: Es handelt sich um die Dokumente des Hohenlohe-Zentralarchivs Neuenstein unter der Signatur HZANLa 10 Bü 47010, S. 204 ff . (= HZANGL 30 Bü 39137).

3Quelle: Bibelausgabe von Abraham Calov, Wittenberg 1681. Besitz: Concordia Seminary Library, St. Louis, Missouri, 2. Chronik 5,13. URL (20.01.2025); der Endbuchstabe ›g‹ und/oder ›q‹ (nicht auflösbar) ist mit einem Abbrechungszeichen versehen und steht entweder für –q[ue] oder –g[en].

4Johann Sebastian Bach, […] Vorschriften und Grundsätze zum vierstimmigen spielen des General-Bass oder Accompagnement. für [sic!] seine Scholaren in der Music, Leipzig 1738, in: NBA, Supplement: Beiträge zur Generalbass- und Satzlehre, Kontrapunktstudien, Skizzen und Entwürfe, hrsg. von Peter Wollny und Michael Maul, Leipzig 2011 (BA 5291-01), S. 3–38.

5Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. Tischreden, Bd. 2, Weimar 1912, S. 11, 1258, Z. 24– 12,2; vgl. Jörg Robert, Luthers Lieder als Antikenübersetzung? Überlegungen zur Ambrosius-Bearbeitung ›Nu kom der Heyden heyland‹, in: Klaus Kipf / Regina Toepfer / Jörg Robert (Hrsg.), Humanistische Antikenübersetzung und frühneuzeitliche Poetik (1480–1620), Berlin / Boston 2017, S. 355.

6Martin Luther, Praefatio zu den Symphoniae iucundae [von Georg Rhau] 1538, in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. Schriften, Bd. 50, Weimar 1914, S. 371, Z. 36–39 in der Übersetzung von Johann Walther; vgl. Robert (2017), S. 355 f.

7Anschauung Christoph Bossert.

8Link 1 sowie Link 2 (20.01.2025).

9Vgl. Daniel R. Melamed, Chor- und Choralsätze, in: Christoph Wolff und Ton Koopmann (Hrsg.): Die Welt der Bachkantaten, 3 Bde., Stuttgart, Weimar und Kassel 1996–1999, Bd. 1, Stuttgart 22000 (11996), S. 169–184, hier, S. 181: Bspw. Kantaten BWV 12/6, 31/8, 80a/1, 161/1, 163/5, 172/5, 185/1. Bach vollzieht dies in diversen Vokalwerken mittels instrumentalen Cantus firmi oder daraus abgeleitetem Material.

10Vgl. hier insbesondere Kathrin Paasch, Katalog, in: ›Mit Lust und Liebe singen‹. Die Reformation und ihre Lieder, Begleitbd. zur Austellung der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha in Zusammenarbeit mit der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha (5. Mai bis 12. August 2012), hrsg. von Kathrin Paasch, Gotha 2012, S. 78–129, besonders Punkt 7 »Gesangbücher und Lieder zur privaten Andacht«, S. 96–100.

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